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Erfahrungstransfer – grenzübergreifend

geschrieben von Natascha Mester im November 2014

Über territoriale Grenzen hinweg voneinander lernen: Das Zentrum für Ost-West-Kooperation e.V. pflegt den Austausch im Sozialwesen zwischen Lüneburg und dem westsibirischen Tjumen

Wer Erfahrungen machen will, muss Umwege gehen – so lehrt es ein altes dänisches Sprichwort und wurde damit möglicherweise zur Triebfeder eines seit den 90er Jahren bestehenden Austauschs zwischen Lüneburg und Tjumen im Süden des westsibirischen Tieflandes. Hervorgegangen ist diese Partnerschaft aus einer Initiative der Lüneburger Ostakademie, seit 1997 wird sie vom Zentrum für Ost-West-­Kooperation e.V. (ZOWK) auf zahlreichen sozialen Ebenen fortgeführt.
Tjumen, das ist der Verwaltungsbezirk, in dem auch Gazprom zu Hause ist, ein Zentrum der russischen Öl- und Gasindustrie. Hier ist man stolz auf eine weitestgehend unabhängige Sozialpolitik. Auch dank dieser ist es heute möglich, ausgetretene Pfade in kleinen Schritten zu verlassen um mit viel Engagement neue Wege zu beschreiten – unter Anderem durch den steten Transfer von fachlichem Know-how mit der Stadt Lüneburg.
Aus einer behutsamen Annäherung sind derweil enge Kontakte erwachsen. Christoph Kusche, Leiter des ZOWK, ist einer der Impulsgeber und seit sechs Jahren aktiver „Motor“ in einem Team von engagierten Lüneburgern. Gemeinsam mit russischen Einrichtungsleitern und Lüneburger Institutionen hat er es geschafft, die Kommunikation und den theoretischen Erfahrungsaustausch in diesem Jahr erstmalig auf eine neue Ebene der Praxisarbeit zu bringen. Jährlich gibt ein neues Thema die Marsch­richtung vor: die praktizierte Sozialarbeit oder, wie in diesem Jahr, die ambulante Hilfe mit dem Schwerpunkt psychiatrische Einrichtungen, in dessen Rahmen Einrichtungsleiter und auch Mitarbeiter aus Lüneburg und Tjumen der jeweiligen Partnerregion einen Besuch abstatteten. Eine Fachtagung bildete die Grundlage für Diskussionen. Kooperationen mit der Löwe-Stiftung und dem SOS-Hof Bockum boten durch die temporäre Mitarbeit praxisnahe Einblicke in die Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Die Reisen haben das eine große Ziel, vor Ort und in der Praxis von einander zu lernen, sich Anregungen zu holen für die Umsetzbarkeit von Ideen. Nicht etwa als „Einbahnstraßen-­Modell“, in welchem ausschließlich Tjumen, das in seinem Sozialsystem noch auf einem niedrigeren Level agiert, profitiert, sondern umgekehrt ebenso. „Zweifelsohne haben wir in Deutschland eine Infrastruktur, wie sie in Russland längst noch nicht umgesetzt ist. Doch haben sich die Menschen dort die einmalige Fähigkeit bewahrt, gemeinschaftlich anzupacken und kreativ zu improvisieren. Das Fehlen von monetären Mitteln führt manchmal sogar zu einer besseren Lösung, einem engeren Mitein­ander“, hat Christoph Kusche erkannt.

„Vor allem das Engagement der Menschen dort ist jedes Mal auch für mich und unser Team ein Ansporn.“

Diejenigen, die bisher mitgefahren sind, empfanden den jeweiligen Perspektivwechsel als eine große Bereicherung und als Initialzündung für neue Herangehensweisen. Das Ergebnis sei verblüffend, zieht Kusche ­Bilanz, und verblüffend seien auch die positiven Veränderungen, die dort wie hier als Resultat der gemeinsamen Gespräche zu vermerken sind. Ergo: Erfahrungen muss man eben doch selbst machen, um sie später erfolgversprechend umsetzen zu können. Und dabei sind die Besuche der jeweiligen Einrichtungen, die Gespräche mit Leitung und Mitarbeitern vor Ort eine ganz große Hilfe.
Für das Jahr 2015 ist das nächste Thema bereits in die Vorbereitung: Der demografische Wandel unserer Gesellschaft, der auch Russland in naher Zukunft vor ein nicht unerhebliches Problem stellen wird. Im Fokus stehen dann Möglichkeiten in der Gestaltung eines barrierefreien öffentlichen Raumes, mögliche Pflegedienstmodelle oder die Umsetzung von Wohngemeinschaften und andere alternative Wohnformen für Senioren. Um den Gästen im kommenden Frühjahr Einblick in bereits umgesetzte Modelle zu geben, werden auch für dieses Projekt wieder Institutionen aus dem Bereich der Seniorenbetreuung in Lüneburg und im Landkreis gesucht, die für diesen Austausch Partner des ZOWK werden, indem diese Einblick in ihre Arbeit gewähren und ihre Erfahrungen mitteilen.
Immer wieder aufregend seien diese Begegnungen und das Lernen voneinander, sagt der Leiter des ZOWK. „Vor allem das Engagement der Menschen dort, mit wenigen Mitteln aber viel Eigeninitiative Großes entstehen zu lassen, ist jedes Mal auch für mich und unser Team ein Ansporn.“ Deshalb soll diese Tradition fortgesetzt werden. Wer sich also als kooperierende Institution oder Gesprächspartner zur Verfügung stellen möchte, melde sich gern bei Christoph Kusche unter kusche@zowk.eu. Weitere Informationen finden Sie unter www.zowk.eu.(nm

Illustration: fotolia.com © gwolters

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