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22 auf einen Streich

geschrieben von Irene Lange im Dezember 2014

Wer aufmerksam durch Lüneburgs historische Straßen geht, dem dürfte in der Großen Bäckerstraße Nr. 2 bis 4 in einer Giebelnische eine Skulptur auffallen: die Büste eines Mannes im Überrock mit hohem Hut. Mit dem rechten Arm reckt er ein Schwert nach vorn; im linken angewinkelten Arm trägt er einen stabähnlichen Gegenstand. Ein Bäcker ist dargestellt, der einst in der St. Ursulanacht 1371 gleich 22 Mann auf einen Streich erschlagen haben soll. Am Haus in der Bäckerstraße befindet sich heute eine Replik, das Original aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist sicher im Lüneburger Museum verwahrt.
Ein Krieg wütete seit 1370 um die Erbfolge im Fürstentum Lüneburg. Nachdem Wilhelm II. von Lüneburg ohne männlichen Erben 1369 verstarb, wäre der Braunschweiger Herzog Magnus Torquatus erbberechtigt gewesen. Doch die Lüneburger lehnten sich gegen dessen Herrschaft auf und zerstörten im Februar 1371 die herzogliche Burg auf dem Kalkberg. Der Herzog musste sich in seine Residenz nach Celle zurückziehen, sammelte ein Heer von 700 Mann und versuchte am so genannten Ursulatag Lüneburg militärisch einzunehmen, um sich seine herzoglichen Rechte zurückzuholen. So gelang es ihm in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober, die Stadtmauern zu überwinden. Es kam zu erbitterten Straßenkämpfen zwischen der Lüneburger Bürgerwehr und den Männern des Herzogs, bei denen zahlreiche Männer auf beiden Seiten fielen. Allerdings gelang es den wackeren Lüne­burger Bürgern im Verlauf des folgenden Tages die Feinde abzuwehren, was seither als ruhmreiches Ereignis der Stadtgeschichte gilt. Bis 1682 wurde es in der St. Johannis Kirche an jedem 21. Oktober mit einem feierlichen Gedenkgottesdienst bedacht.
In zeitgenössischen Berichten aus der besagten St. Ursulanacht 1371 findet sich nur wenig über die Taten einzelner Kämpfer, auch nichts von einem Bäcker, der 22 Mann erschlagen haben soll. Der Historiker Ludwig Albrecht Gebhardi (1735–1802) schrieb jedoch, der Bäckerknecht hätte Didrich ­Eggerdt geheißen. Immerhin sind in einem Ritua­lienbuch des Minoritenklosters Hannover aus dem 15. Jahrhundert die Gefallenen der St. Ursulanacht aufgelistet, darunter auch ein Dirik („semmelbeckers knecht“ und „beckers knecht“) sowie ein Eggert („beckers knecht“). Von denen wird gesagt: „welcke beide sich haben trefflich gewhert und vhile erschlagen am Sande“.

In Aufzeichnungen des Historikers Ludwig Albrecht Gebhardi ist zu lesen, der tapfere Bäckerknecht hätte Didrich Eggerdt geheißen.

s ist wohl anzunehmen, dass in den volkstümlichen Erzählungen die Erinnerung an die Ereignisse in der St. Ursulanacht wach gehalten wurde, bis schließlich daraus eine einzige Person geworden ist: der Bäcker, als Symbol für die Tapferkeit der Verteidiger dieser Stadt. Es ist ohnehin anzunehmen, dass dieser mindestens zwei Personen in sich vereint; dies zeigt auch die Bewaffnung: rechts das Schwert, das wohl als Bäckerschaufel verstanden werden soll; links trägt er die Stange eines Schmiedes mit einem Kringel, der auch ein Backwerk darstellen könnte.
Bei Sanierungs- und Umbauarbeiten der Häuser­reihe in der Großen Bäckerstraße 1964 sollte die Bäckerfigur vorübergehend abgenommen werden. Dabei stellte man fest, in welch desolatem Zustand sie sich bereits befand – sie zerfiel schon beim Abnehmen in mehrere Teile. Ein glücklicher Zufall war es, dass nicht schon vorher größere Stücke herabgefallen waren. Zudem stellte sich heraus, dass die Skulptur nicht wie ursprünglich gedacht aus Holz geschnitzt war, sondern aus Ton bestand. Die ursprüngliche Form war im Laufe der Zeit von einer dicken Farbschicht völlig verformt worden. Bei der Restaurierung im Museum wurden die Hände samt Gegenständen entfernt. So ist nur noch der Torso vorhanden – allerdings in der ursprünglichen glänzenden Glasur.
Wie auch immer die Wahrheit aussieht: Heute ziert die Nachbildung der alten Skulptur aus dem 14. Jahrhundert den Giebel des Hauses in der Großen Bäckerstraße als symbolischer Türwächter gegen alle Anfeindungen. Und damit bleibt auch die Tapferkeit der Lüneburger, die ihre Stadt gegen einen übermächtigen Feind verteidigt haben, im Gedächtnis der Bürger.(ilg)

Foto: Museum Lüneburg, Winfried Machel

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