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Das alles ist Theater!

geschrieben von Natascha Mester im September 2015

Kulturvermittlung und Bildung, soziales Miteinander und Integration unterschiedlichster Gruppen der Gesellschaft: Diese und viele mehr sind heute — neben dem regulären Spielbetrieb — die Aufgaben der kommunalen Theater

Für den Begriff „Multitasking“ findet Wikipedia folgende Erläuterung: „Es bezeichnet die Fähigkeit eines Betriebssystems, mehrere Aufgaben nebenläufig auszuführen.“ Insofern ist ein Theaterbetrieb heute durchaus als Mehrprozess­betrieb zu verstehen, dessen komplexes Aufgabenfeld mittlerweile weit über das traditionelle Kerngeschäft hinausgeht. Neben Schauspiel, Oper, Ballett und Konzerten bieten Theaterhäuser heute eine breite kulturelle Infrastruktur, die in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beginnt und längst nicht in der Projektarbeit zu aktuellen gesellschafts­politische Themen endet. Für Hajo Fouquet, Intendant des Lüneburger Theaters, gehört dieses Engagement zum Tagesgeschäft.

In dieser Spielzeit antworten Sie schon auf die Frage der Integration von Asylsuchenden. Hajo Fouquet: Wir haben Gespräche geführt, um mit jugendlichen Asylanten, die ohne ihre Familien nach Deutschland kamen, gemeinsam Projekte umzusetzen. Vor allem für diese jungen Menschen gilt es jetzt, nachhaltige Strukturen zu schaffen. Daher werden diese Vorhaben auch nicht punktuell stattfinden sondern über einen längeren Zeitraum. Ziel soll es sein, ein Heimatgefühl zu vermitteln, Beziehungen aufzubauen und eine Plattform für Erfahrungen zu schaffen, von denen sicher beide Seiten profitieren werden. Ganz praktische Integrationsarbeit also, mit der sich zumindest im Ansatz das Vakuum ausfüllen lässt, das die Zeit des Wartens auf die Bewilligung von Asyl leider mit sich bringt.

Theater und Schule – ein weiteres Thema am Lüne­burger Haus. Die Projekte, die wir unterrichtsbegleitend anbieten, beziehen sich konkret auf den aktuellen Spielplan des Kinder- und Jugendtheaters. Unsere Theaterpädagogen vermitteln Einblicke in die ­Theaterarbeit und führen die Schüler step by step an die Inhalte der Stücke heran. Alleine mit unserem Weihnachtsmärchen, das wir im Großen Haus spielen, erreichen wir rund 13.000 Kinder pro anno. Für das Jugendtheater T.3 heißt unsere jährliche Zielvorgabe: mit unseren über 100 Vorstellungen mindestens 10.000 Kinder und Jugendliche zu erreichen. Diese Marke haben wir geknackt, mittlerweile sind es 14.000 bis 15.000!

Temporäre Projekte gibt es auch mit Studenten der Leuphana. Richtig, eine Produktion im Jahr wird ausschließlich gemeinsam mit Studenten auf die Beine gestellt, denen wir auf diese Weise zeigen können, dass Theater ein großes Abenteuer ist — sowohl für die Künstler als auch für das Publikum. Wunderbare Stücke wie „Love Bite – Biss ins Herz“ oder „Frankenstein junior“ sind aus dieser Zusammenarbeit entstanden, die unglaublich erfolgreich waren.

Schauspiel und Tanz als Begleiter auf dem Weg des Erwachsenwerdens — wie funktioniert das? Mit der Kinder- und Jugendarbeit haben wir als Theater ein großes Angebotsspektrum für diese Zielgruppe geschaffen – das fängt mit dem Kinder- und Jugendchor sowie mit dem Kinderballett für die Kleineren an und geht weiter über den TheaterJugendClub und den TanzJugendClub — beides Angebote für Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren. Junge Menschen ganz ohne Vorkenntnisse erfahren hier einmal wöchentlich, was es heißt, verlässlich in einem Team zu arbeiten, sich kritisch mit einer Rolle aber auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Bühne wird zum Spielfeld, auf dem ernsthafte Fragen zu großen Themen wie Liebe, Tod oder Erwachsenwerden diskutiert werden. Auf spielerische Weise können dort Erfahrungen gemacht werden, aus denen der Mut hervorgeht, selbstbewusst für etwas einzustehen und vor einem Publikum zu vertreten. Im Laufe der Jahre ist deutlich zu erkennen, wie hier Persönlichkeiten heranwachsen. Theater ist also auch ganz wesentlich menschen- und persönlichkeitsbildend. Mit den „Mimetten“, dem SeniorenTheaterClub und dem SeniorenTanzClub „Blackouties“ zeigt das Theater auch Engagement in der Altersgruppe 50+. Wie für die Jugendlichen ist Theater für diese Altersgruppe eine Entdeckungsreise. Für viele kommt neben der Freude am Spiel aber noch ein weiterer bedeutender Faktor hinzu: Ist der Partner verstorben, das soziale Umfeld nicht mehr vorhanden, wird die Gruppe, wird das Theater plötzlich zur Heimat. Nicht selten orientieren sich die Stücke an den Biografien der Teilnehmer — Themen, deren Aufarbeitung sicher nicht nur schön, sondern mitunter auch schmerzhaft ist. Dies ist nur in einem Kreis von Menschen machbar, denen man Vertrauen entgegen bringt. Die Aufführungen selbst erhalten dadurch eine große Authentizität, die das Publikum berührt und die Darsteller ermutigt, diesen Weg weiter zu gehen. Das Schöne ist, dass dieser Prozess nicht etwa am Theaterausgang endet, sondern auch darüber hinaus noch seine gute Energie entfaltet. Das sind die schönen Tsunamis, die da geboren werden. So etwas kann Theater eben auch.

Derzeit werden alle diese Projekte aus den bestehenden Ressourcen finanziert. Mit der künftigen Finanzierung der Theater steht und fällt also gleichermaßen das soziokulturelle Angebot? So ist es. Müssten wir Personalstellen streichen, würde dies bedeuten, dass wir diese Sozialdienstleistungen, die so ungeheuer wichtig sind, nicht mehr ausüben könnten; ein Zustand, der aufgrund des immensen Spektrums, das damit verbunden ist, nicht unterschätzt werden darf. Theater ist ein Ort, der Denkanstöße gibt, Perspektiven aufzeigt, der gleichzeitig ein Ventil für Emotionen in unserer kontrollierten Welt ist. Wenn die Theater ihre Arbeit auf der bildungs- und soziokulturellen Ebene einstellen, wäre das Ergebnis in naher Zukunft eine soziale Wüste. Dann gäbe es noch mehr Menschen, die keine Herzensbildung erfahren, noch mehr Menschen, die nicht wissen, wie sie ihre Träume träumen sollen.(nf)

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