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Die Predigerwitwenhäuser

geschrieben von Irene Lange im März 2016

Mitte des 16. Jahrhunderts wurden sie als Einrichtung für mittellose Hinterbliebene der lutherischen Pastoren in einem Hinterhof an der Reitenden Dienerstraße errichtet

Nachdem sich die Lüneburger im Jahre 1530 der lutherischen ­Reformation angeschlossen hatten, wurde auch das ehemalige Franziskanerkloster aufgelöst. Die Stadt übernahm 1555 das ­Gebäude und auch die soziale Fürsorge für die dortigen Bewohner. Heute sind lediglich noch einige Teile der Anlage erhalten, in denen heute die Ratsbücherei beheimatet ist; so dient beispielsweise der ehemalige Kreuzgang nun als Magazin für die besonders wertvollen Bücher. Hinter dem erhaltenen Gebäudeteil des ehemaligen Klosters erstreckt sich ein weitläufiger Hof, etwas versteckt gelegen, und über eine Einfahrt an der Reitenden Dienerstraße zu erreichen.
Ein Hinweisschild führt zur Jugendbücherei. Die meisten jungen Besucher werden nicht ahnen, wen der Gebäudekomplex aus der Mitte des 16. Jahrhunderts mit den malerischen Türportalen einst beherbergte. Es bot den Witwen der lutherischen Geistlichen, die meist mittellos zurückblieben, eine unentgeltliche Unterbringung. Als die Häuser erbaut wurden, war die lutherische Kirche noch nicht in der Lage oder bereit, die Hinterbliebenen ihrer Pastoren zu unterstützen, erst 1761 wurde durch diese in Lüneburg eine so genannte Witwenkasse gegründet, um den Frauen einen gesicherten Lebensabend zu ermöglichen.
Die fünf zweigeschossigen Fachwerkgebäude wurden vermutlich nicht nur in Eile, sondern auch möglichst kostengünstig hochgezogen, die Auswirkungen durch diesen frühen „Pfusch am Bau“ wurden schnell sichtbar. Auch gab es keine Schornsteine – übrigens wie bei den meisten Gebäuden des Mittelalters —, so dass der Rauch über die Schlafkammern nach oben durch das Dach abzog, wobei die sogenannten „Rauchhäuser“ in der Erbauungszeit der Predigerwitwenhäuser wegen ihrer Brandgefährdung schon eine Ausnahme bildeten. Auch krümmten sich die Balken, weil man auf ein sicheres Fundament verzichtet hatte und stattdessen mit Sand gefüllte Tonnen die Basis der Häuser bildeten. Vier der Häuser sind mittlerweile restauriert, während das fünfte Haus sich über Eck anschließt. Hinter dessen großen Fenstern im Erdgeschoss befanden sich einst der Wirtschafts- und Küchenbereich.

Eine Stiftung versorgte die Witwen, die auch weiteren Menschen Obdach gewährten, die auf Mildtätigkeit oder soziale Fürsorge der Stadt angewiesen waren, darunter auch Insassen des benachbarten Zuchthauses. Nach der Reformation im ausgehenden Mittelalter änderte sich auch das Leben der Frauen; immerhin galt für sie schon der Gleichheitsgedanke: „Vor Gott sind alle Menschen ebenbürtig“. Zwar wurden Hausarbeit und Kinder­erziehung als anspruchsvolle Aufgaben angesehen; Haushaltsvorstand ­jedoch blieb der Mann. Eine soziale Absicherung gab es nicht, so dass die Witwen und eventuell auch Kinder der Pastoren nach wie vor auf die Versorgung durch die Stiftung angewiesen waren.
Zu den späteren Bewohnerinnen zählt die inzwischen fast vergessene Volksdichterin Wilhelmine Resimius-Berkow. Sie wurde als „armer Leute Kind“ 1862 in Lüneburg geboren und muss im Kreise ihrer elf Geschwis­ter eine harte Kindheit durchleben. Der Vater mühte sich, die Familie mit „drei Thalern Wochenlohn“ durchzubringen. Die Kinder wurden schon früh in den Wald geschickt, um Holz zu sammeln und damit ein Zubrot zu verdienen. Auch die kleine Wilhelmine lernte schon im zarten Kindesalter sämtlich Nöte und Sorgen des Lebens kennen. Und doch liebte sie es zu dichten und träumte sich an ferne Orte. Als sie in ihrem 12. Lebensjahr ihrer Mutter eines schenkte, freute diese sich zunächst darüber. Doch als sie feststellte, dass ihre Tochter ihre häuslichen Pflichten zugunsten des Verseschmiedens vergaß, warf sie das Geschriebene kurzerhand ins Feuer – damit war erst einmal Schluss mit dem Träumen und Dichten.
Dennoch wurde Wilhelmine später zu einer in ihrer Zeit bekannten Dichterin. Bis 1942 lebte sie in ihrem bescheidenen Stübchen auf dem Klos­terhof, bevor sie dort in ihrem 80. Lebensjahr verstarb. Sie wird als schlichte, einfache Frau mit glatt gescheiteltem Haar und blauen Augen beschrieben. In ihren in plattdeutscher Mundart geschriebenen Gedichten drückte sich ihr lebenslanges Sehnen nach Liebe und Glück aus. Beides war ihr wohl zu Lebzeiten nicht in reichem Maße gegönnt; nicht anders erging es wohl auch den anderen Bewohnern, die auf dem Klosterhof in eigens für sie errichteten Häusern von der Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen ihr Leben fristeten.(ilg)
Fotos: Enno Friedrich

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