Magazin über das Leben in Lüneburg
Themen
Alle Themen und Artikel

Ein Netzwerk der Hilfe

geschrieben von Christiane Bleumer im Januar 2016

Gesundheitsversorgung für alle: Ärzte, Therapeuten und Heilpraktiker bieten in Lüneburg ehrenamtlich die „Offene Sprechstunde“ für Flüchtlinge an

Zurzeit sind es hauptsächlich Erkältungskrankheiten und Magen-Darminfekte, die Dr. Bettina Schröder-Henning behandelt. Das ist in ihrer eigenen Praxis so, und das wiederholt sich jetzt im Winter auch in ihrer regelmäßigen Sprechstunde, die sie in der Flüchtlingsunterkunft am Ochtmisser Kirchsteig abhält. Immer montags in den frühen Nachmittagsstunden ist die Allgemein­medizinerin vor Ort, um ehrenamtlich die kleinen und größeren gesundheitlichen Probleme der Bewohner zu behandeln, die vielfach auch auf den traumatischen Erfahrungen beruhen, die die Flüchtlinge in der Vergangenheit machen mussten. Mit ihrem Engagement steht sie nicht allein: Anfang September 2015 hat sich in der Hansestadt die Initiative „Offene Sprechstunde“ Lüneburg gegründet, eine Gruppe von Ärzten, Therapeuten und Heilpraktikern, die gänzlich auf ihr Honorar verzichten und Flüchtlinge in den Unterkünften oder der eigenen Praxis medizinisch behandeln. Ziel ist es, gemeinsam mit der Stadt Lüneburg eine angemessene Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen.
„Inzwischen sind es über 30 medizinische Fachleute verschiedenster Fachrichtungen, die sich dieser Initiative angeschlossen haben“, freut sich Pablo Rondi über den Erfolg und hebt besonders die äußerst harmonische Zusammenarbeit zwischen den Fachgruppen hervor. Als Lüneburger Heilpraktiker hat er sich von Beginn an für den Aufbau ­einer ausreichenden medizinischen Betreuung für die Bewohner der Flüchtlingsunterkünfte eingesetzt. „Natürlich gab es bereits zuvor Ärzte, die Flüchtlinge ehrenamtlich behandelten“, weiß er. Mittlerweile habe sich die anfängliche Initiative zu einer „Organisation“ und einem weit verbundenen Netzwerk entwickelt, das sehr leistungsfähig ist und durch gute Planung in ganz Lüneburg flächendeckend Sprechstunden zu festgelegten Zeiten anbieten könne. Idealerweise hat jeder Arzt oder Heilpraktiker seine feste Sprechzeit am gleichen Ort. „So können wie unsere Patienten besser kennen lernen, für die diese Kontinuität natürlich wichtig ist“, weiß Pablo Rondi, der selbst in der Flüchtlingsunterkunft am Vrestorfer Weg tätig ist.
Die gesetzlichen Regelungen sehen vor, dass der medizinische Leistungsumfang geringer ist als bei regulär Versicherten. „Für die Flüchtlinge ist lediglich bei akuten Erkrankungen und starken Schmerzen eine umfassende ärztliche Behandlung vorgesehen“, erläutert Bettina Schröder-Henning die vorschriftsgemäße Vorgehensweise. Dafür müssten sich die Patienten im Normalfall von dem Sozialarbeiter ihrer Unterkunft einen Behandlungsschein ausstellen lassen. Eine Ausnahme seien Schwangere, die Anspruch auf alle üblichen Untersuchungen und Leistungen hätten, so die ­Medizinerin. Doch halten sich Schmerzen oder Krankheiten nicht immer an den Dienstplan der Sozialarbeiter, und so komme es auch schon einmal vor, dass der abendliche Wachdienst einen Krankenwagen ruft, obwohl dies nicht unbedingt nötig sei, erläutert die Ärztin. „In Syrien zum Beispiel ist das Gesundheitssystem ganz anders ge­regelt. Woher sollen die Flüchtlinge wissen, dass man hier in Deutschland nicht sofort ins Krankenhaus geht?“

Überhaupt sei die Kommunikation mitunter gar nicht so leicht. Zwar gibt es im Internet Anamnese­bögen in verschiedensten Sprachen und vieles lässt sich im Gespräch zwischen Arzt oder Heilpraktiker und Patient mit „Händen und Füßen“ überbrücken, „doch wäre es mit einem Dolmetscher sehr viel einfacher.“ Die Unterkunft am Ochtmisser Kirchsteig kann hier glücklicherweise auf die Hilfe von Zaki-Ali Alagrmi zählen, der seine guten Sprachkenntnisse auch während der Sprechstunden ehrenamtlich einsetzt. Bettina Schröder-­Henning würde den arbeitsunfähig geschriebenen Palästinenser am liebsten als 450-Euro-Kraft beschäftigen, doch „bis jetzt scheitert dies an bürokratischen Hürden“, bedauert sie.
Die zusätzliche Betreuung durch ehrenamtliche Helfer kann natürlich nicht die reguläre kassen­ärztliche Behandlung ersetzen. „Wir können schließlich nicht operieren“, sagt Pressesprecherin Elisabeth Winger. Doch das niedrigschwellige Angebot sei nicht nur aus medizinischer Sicht sehr wichtig. Es bringe auch Entlastung für die Sozialarbeiter und zeige den Bewohnern der Unterkunft, dass sie nicht allein gelassen werden, sondern Hilfe von außen erhalten, betont Elisabeth Winger. Um die Behandlungsmöglichkeiten noch weiter auszubauen, soll nach Möglichkeit bald ein Kleinbus angeschafft werden, der — mit Behandlungsliegen und Schränken für medizinisches Gerät ausgestattet — als mobile Praxis zu den Patienten fährt. „So können Lücken im Versorgungssystem geschlossen werden“, hofft Bettina Schröder-Henning, die sich vorstellen kann, diesen Behandlungsbus auch für andere Bevölkerungsgruppen zu nutzen. „Wir sind zu diesem Thema mit der Stadt im Gespräch.“
Bereits realisiert werden konnte die Nutzung eines Raumes im Heinrich-Böll-Haus in der Katzenstraße. Im Büro der Willkommensinitiative steht jetzt auch ein Schreibtisch für die Mitarbeiter der „Offenen Sprechstunde“, vor allem aber können hier die zahlreichen Medikamentenspenden gelagert werden. „Viele Pharmafirmen haben sich sehr großzügig gezeigt und zahlreiche Artikel wie Schnelltests, Medizin oder auch Stethoskope kostenlos zur Verfügung gestellt“, freut sich Pablo Rondi. Trotzdem würden noch dringend weitere Spenden benötigt, um die laufenden Kosten zu decken und dem Traum vom Behandlungsbus ein Stückchen näher zu kommen.
Medizinische Fachleute, die sich dieser Initiative anschließen möchten, sind auf der Informationsveranstaltung am 7. Februar 2016 um 18.00 Uhr im Konferenzraum Daimler im Hotel Bergström eingeladen. Weitere Informationen, auch für Spenden­möglichkeiten, finden Sie im Internet unter www.
offene-sprechstunde.de(cb)

Fotos: Enno Friedrich

Anzeige