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Ein Stadtteil für Lokalpatrioten

geschrieben von Irene Lange + Natascha Mester im Oktober 2014

Das soziale Gefüge einer Stadt en miniature: In Kaltenmoor ist heute nicht nur die kulturelle Vielfalt zu Hause, sondern auch ein starkes „Wir-Gefühl“, mit dem man den partiellen Interessenskonflikten begegnet

Kaltenmoor ist heute Lüneburgs Stadtteil, der wohl am stärksten kontroverse Empfindungen hervorruft. Manch einer schreibt ihm eine „multiple Persönlichkeit“ zu, andere wieder schätzen seine verschiedenartigen Gesichter.
Seine Geschichte ist im Vergleich zu Lüneburgs Altstadthistorie jung, die konkrete Entwicklung begann erst in den 60er Jahren. Man plante großzügig, ging davon aus, dass dieser Stadtteil einmal 7.000 bis 8.000 Menschen beherbergen würde. Heute sind es über 9.000 Bewohner, die unter Anderem auch von den sozialverträglichen Mieten profitieren.
Die Erschließung nahm von Süden her ihren Lauf mit einer vierspurigen Schnellstraße, ausgehend von der damaligen B4 bis zum Rand des vorge­sehenen Baugebietes. Es folgte der Ausbau der Infra­struktur durch Schulen, Kindergärten, ein Seniorenzentrum, Einkaufsmöglichkeiten und die Busanbindung an den Stadtkern Lüneburgs. Für den „Wintersport“ wurde sogar eine Rodelbahn am einzigen Hügel der Gegend geschaffen.
Wo einst die die Klebstoff-Firma Scheidemantel produzierte, ist heute ein Bildungszentrum für das Handwerk mit der kaufmännischen Berufsschule, der gewerblichen und der landwirtschaftlichen Berufsschule sowie weitere Einrichtungen zur Weiter- und Fortbildung zu Hause. Und auch ein weiteres Novum nahm hier in den 70er Jahren seinen Anfang: In Kaltenmoor wurde die St. Stephanus-­Kirche als erstes ökumenisches Zentrum im deutschsprachigen Raum gegründet, noch heute lebendiger Treffpunkt beider Konfessionen.

Denkt man an Lüneburgs größten Stadtteil, denkt man vermutlich spontan an sein weithin sichtbares, ungeliebtes „Markenzeichen“, die Wohntürme, die als Relikt aus den 60ern noch heute dieses Terrain kennzeichnen. Rund 3.500 Menschen leben allein hier, viele beziehen Sozialleistungen. Im Lauf der Jahre blätterte der Putz, das Erscheinungsbild zeigt sich innen wie außen marode. Es sind nicht etwa die Mieter, die für diesen Verfall verantwortlich sind; augenscheinlich verloren die Großinvestoren aus fernen Landen das Interesse an ihren Lüneburger Objekten. Die Mieten fließen schließlich regelmäßig, denn günstiger Wohnraum ist nach wie vor gefragt. Es folgten Prozesse, die jedoch keine sichtbare Verbesserung mit sich brachten. Schlechte Wohnbedingungen, soziale „Problemzone“: Von Zeit zu Zeit bevölkern Hiobsbotschaften die örtliche Tagespresse, ausgelöst von Interessensgruppen, zwischen denen eine Einigung unmöglich scheint.

wer weiß? Vielleicht trinkt Lüneburg bereits im nächsten Herbst den ersten naturtrüben Saft aus Kaltenmoor!

Hier prallen Kulturen und Lebensweisen aufeinander, das birgt nun einmal Konfliktpotential; und doch ist es oft auch gerade diese kulturelle Vielfalt, die erstaunliche Projekte des Miteinanders entstehen lässt. Das internationale Frauencafé und das „Drei-Generationen-Projekt Nieder­sachsen – Mit Migranten für Migranten“ sind nur zwei von vielen Beispielen, die hier mit viel Engagement auf die Beine gestellt wurden. Auch Quartiersmanager Uwe Nehring packt überall dort mit an, wo Ideenreichtum und Initiative gefragt sind, um das Zusammenleben immer noch ein bisschen besser zu gestalten – nicht nur innerhalb des Bürgertreffs, den er leitet, sondern auch außerhalb, indem er mit Bürgern das Gespräch sucht, Anregungen aufnimmt und zur Umsetzung anregt. Genauso aktiv zeigt sich die Ar­beiterwohlfahrt unter Anderem mit ihrem Projekt „Awocado“ sowie eine Bürgersprechstunde. Darüber hinaus gibt es ein facettenreiches Angebot für Menschen mit Migrationshintergrund. 1999 wurde Kaltenmoor in das Städtebauförderungsprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf — die soziale Stadt“ aufgenommen. Seither ist eine stetige positive Entwicklung sichtbar.
Nur wenige Straßen weiter zeigt sich Kaltenmoor von seiner grünen Seite. Schmucke Einfamilien- und Reihenhäuser schmiegen sich hier aneinander, die gepflegten Vorgärten scheinen um den Titel des Schönsten zu buhlen.

Im April dieses Jahres rief der frühere Lüneburger Bürgermeister Helmut Muhsmann dazu auf, gemeinsam ein Areal mit Obst­bäumen zu bepflanzen, um künftig von den Streu­obstwiesen zu profitieren. Dank vieler Helfer können nun auf zwei Grünflächen zwischen Theodor-­Heuss-Allee und Blümchensaal alte Sorten von Apfel-, Birnen- und anderen Obstbäumen gedeihen und Früchte tragen. Die erste Wiese mit über 30 Obstbäumen liegt nahe dem Jugendzentrum Kaltenmoor und erhält den Namen „Am Kaltenmoor“. Ein Stück weiter, ganz in der Nähe des Flüsschens Goldbeek, entsteht die „Goldbeekwiese“ mit weiterem Baumbestand. Und wer weiß – vielleicht trinkt Lüneburg bereits im nächsten Herbst den ersten naturtrüben Saft vom Streuobst aus Kaltenmoor!
Sozialer Wohnungsbau und etablierte Bürgerlichkeit, kulturelle Andersartigkeit und Lokalpatriotismus — es sind diese verschiedenartigen Facetten, aus denen sich Kaltenmoor zusammensetzt und zugleich zu einem Spiegel der Gesellschaft auf kleinstem Raum werden lässt. Wer hier lebt, liebt diese unnachahmliche Mischung, liebt die kulturelle Vielfalt, vor allem aber auch das besondere „Wir-Gefühl“, das parallel zu allen Hindernissen und Problemen über die Jahre gewachsen ist. Nachbarschaft hat hier noch einen hohen Stellenwert, wie auch die gegenseitige Unter­stützung, das gemeinsame Ziehen an einem Strang. Daraus hat sich bei manch einem ein handfester Lokalpatriotismus entwickelt. Auch bei unserem Oberbürgermeister Ulrich Mädge, der hier seit vielen Jahren lebt – aus Überzeugung!(ilg/nm)

Fotos: Enno Friedrich, Hajo Boldt, Winfried Machel

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