Magazin über das Leben in Lüneburg
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Leben ist Unterwegssein

geschrieben von Irene Lange im November 2015

Das Leben ist ein immerwährendes Unterwegssein, so Christian Schnabels Lebensphilosophie, der mit 16 Jahren aus der DDR floh, in Texas seinem High School-Abschluss machte, als Cowboy arbeitete und schließlich 21 Jahre lang als Pastor in Deutsch-Evern tätig war

Eigentlich sollte Christian Gottfried Schnabel, Jahrgang 1944 und mittlerweile Pastor im Ruhestand, in Ostpreußen geboren werden. Sein Vater, ein Kunstmaler, Grafiker und Lehrer, befand sich als Soldat im Krieg; seine junge Mutter hochschwanger, als sie mit ihrer kleinen Tochter ihre Heimat Leipzig in Richtung Ostpreußen verließ. Sie wollte dort von guten Freunden umgeben sein, wenn ihr zweites Kind zur Welt kam. Doch gewährte das letzte Kriegsjahr 1944 ihr diesen Wunsch nicht; eine Verfügung zwang sie, den nächsten Sonderzug Richtung Westen zu besteigen — in Leipzig wurde ihr der Ausstieg verweigert. Gemeinsam mit ihrer Tochter wurde sie evakuiert und landete bei einem Bauern in Uichteritz, einem kleinen Ort in der Saale-Niederung. Ihr Sohn Chris­tian kam schließlich in einer Privatklinik im nahegelegenen Weißenfels zur Welt. Die ersten Monate seines Lebens verbrachten er mit der Mutter und der drei Jahre älteren Schwester bei der Bauernfamilie Weidenbach. Die kleine Tochter des Bauern, Marita, hatte einen Narren an Baby Christian gefressen und trug ihn so oft es ging auf ihren Armen umher. Viele Jahre später, als die Wende längst vollzogen war, hat Christian Schnabel nach ihr geforscht und wieder Verbindung mit ihr aufnehmen können. Selbst die örtliche Presse hatte diese Wiedersehensgeschichte seiner­zeit mit einem Foto gewürdigt. Nach dem Kriegsende kehrte die Familie ins heimatliche Leipzig zurück. Der Großvater besaß dort eine Tischlerei, in der sich der Junge oftmals aufhielt und sich so einiges von diesem Handwerk abschaute. Wiederkehrende Aufenthalte auf dem Bauernhof von Freunden der Eltern gewährten ihm Einblicke in die Haltung von Kühen, Pferden und Schweinen. Damals wurde noch per Hand gemolken und die Milch in Kannen auf hölzernen Milchbänken bereitgestellt, um von den Molkereiwagen abgeholt zu werden. „Die Milchbank war ein beliebter Treffpunkt der Jugend“, erinnert sich Christian Schnabel. Die Fünfzigerjahre, so sagt er, seien für ihn sehr prägend gewesen. Überschattet wurde seine Jugend von dem frühen Tod seines Vaters.

Als sein Stiefvater 1960 auf der Straße verhaftet wurde, begann es auch für den 16-jährigen brenzlig zu werden; in der Schule wurde er von der Stasi verhört.

Die Schulzeit in der DDR schloss auch die Arbeit in einem sozialistischen Produktionsbetrieb mit ein. Bereits mit etwa 14 Jahren wurde er erst der Bonbonfabrik und später einem Volkseigenen Betrieb im Schwermaschinenbau zugeteilt, doch arbeitete er dort gerne, erlernte zahlreiche technische Fertig­keiten und erlangte jede Menge Menschenkenntnis. Sein besonderes Interesse galt jedoch der Theologie und Philosophie. Als er statt der zwangsweise eingeführten Jugendweihe den Konfirmanden­unterricht besuchte, begannen die Schwierigkeiten auf der Oberschule, die zusätzlich dadurch geschürt wurden, dass er bekennendes Mitglied in der Jungen Gemeinde war und das symbolische Kugelkreuz trug. Die Weiterführung zur Oberstufe wurde ihm schließlich verweigert. Nach der 10. Klasse ging er daher auf ein sogenanntes Volksgut in Mecklenburg, wo es die Möglichkeit gab, den „Facharbeiter mit Abitur“ zu machen. Es war das Jahr 1960, als sein Stiefvater — die Mutter hatte wieder geheiratet — auf der Straße verhaftet wurde. Es folgte eine Hausdurchsuchung, danach begann es auch für den 16-jährigen Chris­tian Schnabel brenzlig zu werden; wenig später wurde er in der Schule von der Stasi verhört. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, 1961 mit einer Freundin zum Kirchentag nach West-Berlin zu trampen. Um anschließend Freunde im Wes­ten zu besuchen, hatte er sich vorher schon ein Hin- und Rück-Flugticket Hannover-Berlin gekauft. Er brauchte es nicht mehr – denn inzwischen suchte ihn nicht nur die Stasi, auch die Mauer war am 13. August gebaut worden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich im Wes­ten durchzuschlagen. „Wer sich nicht zu schade war, fand damals immer Arbeit. Ich habe Toi­letten in D-Zügen geputzt.“ Schließlich meldete er sich im Aufnahmelager Friedland als Flüchtling. Immer dabei sein alter „Hebammenkoffer“, der ihn später noch in die USA nach Texas begleiten sollte und den er bis heute aufbewahrt. Als jugendlicher Flüchtling war er auf diese Weise im Westen gelandet. Einen Schulabschluss hatte er noch nicht, die einzigen Fremdsprachen, die er beherrschte, waren Russisch und einige Brocken Französisch. Eine wichtige Rolle spielte Dr. Martin Freytag, der ihm 1961 den Besuch der staatlich anerkannten Christophorus-Schule in Elze ermög­lichte, auf der er sein Abitur nachholte. Als inzwischen anerkanntem Ostzonen-Flüchtling wurde ihm ein Teil des Schulgeldes erlassen. Wohnen konnte er im Internat und erhielt 15 Mark Taschengeld, wovon er die Hälfte sparte. Schon zu jener Zeit gab es einen internationalen christlichen Jugendaustausch mit den USA. Obwohl Christian Schnabel bisher die englische Sprache nicht beherrschte, meldete er sich an und erhielt den Zuschlag. Der amerikanische Konsul, bei dem er vorstellig wurde, hatte zunächst wegen seiner fehlenden Englisch-Kenntnisse Bedenken, händigte ihm schließlich aber sein Visum aus, nachdem er sich die Geschichte des 17-Jährigen angehört hatte. Vier Monate später reiste Schnabel nach Weatherford/Texas, begleitet von jener alten Hebammen­tasche als einzigem Gepäckstück. Seine Gasteltern Robert Haynes und Ehefrau Juanita holten ihn vom Flughafen in New York ab. Nachdem man sich zunächst mit Händen und Füßen verständigte, lernte Christian Schnabel dann in der dortigen Methodisten-Gemeinde schnell die Sprache. Er wurde in die High-School aufgenommen, und schon nach einem halben Jahr durfte er in der Gemeinde am Sonntag seine erste Predigt halten — natürlich auf Englisch. Noch heute erinnert er sich, um welches Thema sich diese drehte: „Why am I a Christian?“ Mit einem High-School-Diplom inklusiv Robe und Hut beendete er seine Ausbildung in Texas.

Einige Wochen arbeitete er als Cowboy auf einer Ranch, für ihn bis heute eine wunderbare Erinnerung: harte Arbeit, Weite und Freiheit.

Dass er auch noch einige Wochen als Cowboy auf einer Ranch in Comanche arbeiten konnte, ist für ihn bis heute eine wunderbare Erinnerung: harte Arbeit auf der einen Seite, Weite und Freiheit auf der anderen. In dieser Zeit durfte er eines der „Cutting-Horses“ reiten, eine äußerst wendige Pferderasse, die imstande ist, eigenständig eine Kuh oder ein Rind aus der Herde zu separieren. Auch als Zimmermann konnte er sich verdingen. Den Grundstein für seine Berufung als Pastor legte wohl seine Tante Margarete Wittmer. Sie war Schriftstellerin und unterhielt sich mit ihm über Glaubensfragen, was bewirkte, dass ihn Theologie und Religion schon im Kindesalter beschäftigten. In Westberlin und Göttingen studierte er dann tatsächlich auch Theologie, wo er dann auch sein Examen machte. In Göttingen lernte er schließlich auch ein gewisses Fräulein Marie Svensson kennen, die dort Psychologie studierte und eine vergleichbar ungewöhnliche Biografie vorzuweisen hatte. Als Schwedin war sie in Peking geboren, in Wuppertal aufgewachsen. Recht bald wurde ge­heiratet, und mit der Heirat eröffnete sich für den einstigen Flüchtling Christian Schnabel endlich auch die Möglichkeit, mit dem Auto in die DDR einreisen zu dürfen, um die Familie zu besuchen. Nach dem 1. Examen im Jahre 1971 kam das Vika­riat in Rotenburg/Wümme. Heute noch erinnert er sich an seine erste Beerdigung und die häufigen Gespräche mit alten Menschen. „Sterblichkeit und Ewigkeit haben mich dort sehr beschäftigt“. Seine erste Pfarrstelle trat er in Breloh bei Munster an, auf diese folgten zwei Jahre in Helmstedt und 21 Jahre in Deutsch-Evern. 2004 trat er dann seinen Dienst in Stapel an, das vor der Wende auf dem Gebiet der DDR lag. Nach seiner Pensionierung vor sechs Jahren zog das Ehepaar Schnabel nach Lüne­burg in ihr geräumiges Haus, eine ehemaligen ­Bäckerei. Das Gebäude bietet Platz für eine große Werkstatt, in der er nach Herzenslust auch mit seinen Enkeln werkeln kann. Der alte Mehlboden im Haus ist mit einer umfassenden Bibliothek ausgestattet. „Die Ewigkeit ist gleich um die Ecke, das ist unsere Erkenntnis“. Das Leben sei ein immerwährendes Unterwegssein im Sinne und Geiste Christi, ist Christian Schnabel überzeugt und zitiert das Lied von Joseph von Eichendorff „Mich brennts in meinen Reiseschuhn“ – diese hatte er in seinem Leben wohl oft genug an den Füßen.(ilg)

Foto: Enno Friedrich

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