Magazin über das Leben in Lüneburg
Themen
Alle Themen und Artikel

Der Turmbläser von St. Johannis

geschrieben von Irene Lange im April 2014

Manfred Toews ist seit 35 Jahren der Turmbläser von St. Johannis.Sein täglich vorgetragener Choral ruft Bürger zur Besinnung auf

Wenn allmorgendlich gegen neun Uhr die Töne eines Chorals vom Glockenturm der St. Johannis-Kirche schallen, ist für die Lüneburger die Welt in Ordnung. Dann ist in der Regel Manfred Toews die 200 engen Stufen zum Turm hochgestiegen, hat in seinem Notenheft nach einem passenden Stück gestöbert und sich samt Flügelhorn und Notenständer durch die schwere hölzerne Tür in den Glockenturm begeben. Der Ausblick aus den vier Luken lässt ihn noch heute – nach 35 Jahren — ehrfürchtig auf „seine“ Stadt hinabblicken, bevor er sein Instrument an die Lippen setzt. Aus großer Höhe blickt er hinab auf die Geschäftigkeit der Lüneburger auf dem Platz Am Sande, auf den Wasserturm mit der davor liegenden Ratsmühle, auf die Dächer um die Michaeliskirche und schließlich bis zum Kloster Lüne.
Der gebürtige Ostpreuße Manfred Toews ist mit seinen 72 Jahren der dienstälteste Turmbläser Norddeutschlands. 1945 hatte es seine Familie nach der Flucht aus der Heimat zunächst nach Burgdorf bei Hannover verschlagen. Nach dem Abi­tur in Lehrte studierte er an der Fachhochschule in Celle Agrarwissenschaften. Die ersten Berufsjahre verbrachte er in Hamburg, bevor er 1974 als Diplom-Agraringenieur beim Amt für Agrarstruktur in Lüneburg seinen Dienst antrat. Dieses befand sich seinerzeit noch in der Alten Ratsmühle und „duckte“ sich somit fast im Schatten des mächtigen Turms des ältesten Gotteshauses der Stadt, der St. Johanniskirche. Schon vor 40 Jahren tönte es allmorgendlich vom Turm herab, doch während einer umfassenden Erneuerung des Turmhelmes kam es zu einer mehrjährigen Pause, bis 1977 ein Trompeter des Heeresmusikkorps das Turmblasen in Lüneburg erneut etablierte. Allerdings beendete er seinen Einsatz bereits ein Jahr später. Für Manfred Toews war dies ein deutliches Signal. Konnte er diese Tradition nicht fortsetzen? Schließlich hatte er sich in jungen Jahren selbst das Trompetespielen beigebracht und just in jenem Jahr in einem Posaunenchor angeheuert, allerdings auf einer alten Jazz­trompete.

Und so ergab es sich schließlich, dass er seine Dienste als Turmbläser anbot. Lüneburg war begeistert, sein Vorschlag wurde mit offenen Armen angenommen. Seit dem 1. Oktober 1978 spielt er nun täglich in alle vier Winde. Er erfüllt mit dem Spielen des Chorals noch heute den Schwur eines betuchten Sülfmeisters, der im Dreißig­jährigen Krieg (1618–1648) ein Gelübde ablegte: Sollte die Stadt von Brandschatzung verschont bleiben, wollte er dafür sorgen, dass täglich ein Choral zur Ehre Gottes vom Turm erschallt. Wie vermutet, wurde wohl auch mit Geld nachgeholfen und somit die Stadt freigekauft. Bis auf Kriegszeiten oder zu Zeiten notwendig gewordener Restaurierungsarbeiten an der Kirche oder im Eichengebälk des Glockenturms erfreuten Generationen von Turmbläsern die Lüneburger Bürger mit ihren Weisen, die hoch oben vom Turm Minuten der Besinnung im geschäftigen Trubel der Stadt bringen.
Einige Wochen musste sich auch Manfred Toews eine Auszeit aus Krankheitsgründen gönnen, doch wurde er durch Musikstudenten würdig vertreten. Inzwischen ist er genesen und steigt zügig wie eh und je mit seinen 72 Jahren die steile Wendel­treppe zum Turm empor. Oft ist es im Winter dort oben bitterkalt, so dass die Ventile seines Flügelhorns förmlich festfrieren und er sie mit seiner Körperwärme auftauen muss. Doch können Wind und Wetter ihn nicht davon abhalten, seine musikalische Botschaft über die Stadt zu schicken. Wie er hofft, noch lange Zeit! (ilg)

Foto: Enno Friedrich

Anzeige