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Die andere Seite der Sonne

geschrieben von Kurt-Achim Köweker im Mai 2017

Er lag im weißen Hemd auf dem weißen Tuch. Ein imponierendes Bild. Evangelos’ üppig-­dunkles, lockiges Haar fiel in Wellen bis auf seine Schultern, der Vollbart umrahmte das markante Gesicht. Er war blass, sehr blass. „Und dennoch sieht er aus wie Gottvater Zeus persönlich“, dachte Sophie, als sie sich über ihn beugte, eine Oleanderblüte auf seine Brust legte und sich wieder auf ihren einfachen Holzstuhl zurücksetzte.
„ϒαті?!“, riefen die schwarz gekleideten Frauen hinter ihr und hoben die Hände zum Himmel. „Warum?!“
Seine Eltern, seine Schwestern saßen da, seine Nichten. Auch Nachbarinnen, die den dorfbekannten Mann nur selten zu Gesicht bekommen hatten, klagten jetzt an seinem Sarg. Hier war Evangelos vor vierundsechzig Jahren geboren worden, hier hatte er auch unbedingt beerdigt werden wollen. Der Zufall hatte ihm den Wunsch erfüllt. Das heißt, ein Zufall war es eigentlich nicht gewesen, nicht nur. Schicksal vielleicht. Ein Schicksal, das er sich verdient hatte.
„ϒαті?!“, tönte es rhythmisch aus der schwarzen Wand hinter ihr, „warum?!“ Wenn die Hände der Weiber sich zur Erde senkten, glaubte Sophia einen leisen Luftzug zu verspüren, eine Wohltat in der brütenden Hitze, die sie umgab. „Ob eine von ihnen seine Geliebte ist?“, fragte sie sich. Eine rhetorische Frage, warum sollte es in seiner griechischen Heimat anders sein als in Deutschland, wo sie beide lebten. Gelebt hatten. Sie biss die Lippen zusammen, bis ihr Mund sich zu einem Strich verhärtet hatte – ein Schlussstrich unter ihre zweite Ehe. Sie wedelte mit ihrem schwarzen Gesichtsschleier Fliegen zur Seite. Vor ihr lag Evangelos, als ruhe er nur aus. Als könne er jeden Moment sich mit einem tiefen Atemzug aufrichten und sie anschauen. Sie schloss ihre Augen und sah die seinen: dunkle Augen, Lachfältchen daneben, das gewinnende Lächeln eines Charmeurs, der sich seiner Sache sicher ist, eines Menschen, dem alles gelang. Mit diesem Blick hatte er sie erobert. Damals, als sie im Streit mit ihrem ersten Ehemann während der Fahrt aus dessen Mercedes gestiegen und er daraufhin einfach weitergefahren war und sie am Straßenrand hatte stehen lassen. Da waren sie noch verheiratet, aber schon lange kein Paar mehr gewesen. Dann war er gekommen und hatte angehalten — Evangelos, ein Bild von einem Mann, der ihr mit seinem lockigen Haar im Sonnenschein wie Göttervater Zeus persönlich erschienen war. Sie war zu ihm in sein VW-Cabrio gestiegen; er hatte ihr angesehen, dass ihr jedes Ziel recht war, zu dem er sie mitnahm. Und seine frohe Botschaft hieß ‚Ich weiß, was du brauchst – du brauchst mich!‘

Es war Liebe auf den ersten Blick. Sophie ließ sich scheiden. Er zog bei ihr ein. Sie besaß eine Firma, die sie auch leitete, und ihre Geschäfte liefen gut. Evangelos verkaufte medizinische Geräte an Krankenhäuser und Arztpraxen, doch die große Zeit der hemmungslosen Investitionen ging ihrem Ende entgegen, daran konnten auch sein Charme und sein überzeugendes Auftreten nichts ändern. Macht nichts, fanden beide. Das junge Glück kannte keine Grenzen. Fragen nach seinen früheren Lebensverhältnissen lächelte er weg.
„Hast du keine Familie?“
„Doch. Meine Eltern und Schwestern in Griechenland.“
„Und hier?“
„Nur dich. Du bist mein Leben.“
„Und wovon willst du später leben?“
„Von dir!“
Er hatte das mit der größten Selbstverständlichkeit gesagt, aber mit einem Lächeln, das diese Wahrheit sofort in einen Scherz umkehren konnte, wenn sie nachgefragt hätte. Aber sie hatte nicht nachgefragt. Sie hatte ihn bald darauf geheiratet.
Ihre Hochzeit an seinem Geburtsort Galatista, einem Kleinstädtchen auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki, wurde zu einem ausufernden Fest, von dem die Bewohner noch Jahre später schwärmten. Wie großzügig und spendabel dieser Mann war, wie freundlich und charmant! Und seine Frau – wie nett. Zurück in Deutschland trug Evangelos seine Sophie auf Händen, als sei das sein Beruf. Zu ihrem Leidwesen war er viel unterwegs; Geschäftsreisen, die sich nicht vermeiden ließen. Einmal pro Jahr zog es ihn zudem in seine alte Heimat; er reiste meistens allein, da Sophie in ihrer Firma oft unabkömmlich war. In den letzten Jahren hatten diese Griechenlandreisen an Häufigkeit zugenommen. Zwei- bis dreimal im Jahr flog er für einen Kurzurlaub nach Chalkidiki, immer allein.
„Was hast du da zu tun?“
„Familie, du weißt …“
„Soll ich nicht mitkommen? Ich müsste mir zwar die Zeit frei schaufeln, aber es wäre möglich.“
„Lass nur, ich habe zu tun, muss was erledigen.“
„Und was?“
„Familie, weißt du!“
Fliegen schwirrten über dem Sarg. Sophie lüftete den Schleier, griff ihren Fächer und fächelte sich Kühlung zu. „ϒαті!“, riefen die schwarzen Frauen hinter ihr, „warum!“ Warum musste ein so honoriger und anständiger Ehemann so früh sterben, wollten sie vom Himmel wissen. Sophie schwieg dazu, wie sie auch in den letzten Jahren ihrer Ehe geschwiegen hatte.

Enttäuschung, bei dir die Oleanderblätter, die uns das Leben vergällen.“Enttäuschung, bei dir die Oleanderblätter, die uns das Leben vergällen.“

Er war viel gereist in diesen letzten Jahren. Auffällig viel. Obwohl seine Geschäfte stagnierten, nahm die Zahl seiner Geschäftsreisen zu. Ständig war er unterwegs, manchmal sogar tagelang, bis in die Wochenenden hinein. Sie versuchte, mit ihm darüber zu reden: Es sei schade, dass er so oft fort sei. Ob diese vielen Reisen denn unbedingt sein müssten? Er sah sie mit traurigen Augen an und nahm sie in die Arme.
„Mein Engel, ich bin traurig, wenn du mir miss­traust.“
„Ich misstraue dir nicht! Ich liebe dich doch!“
„Warum fragst du dann?“
Sie versprach, ihn nie wieder zu fragen. Und gab sich zufrieden.
Als sie eines abends allein – ihr Mann war wieder einmal unterwegs – im Internet surfte und sich wahllos durch Facebook-Seiten klickte, sah sie sein Bild. Es war der reine Zufall, dass sie daran hängen blieb: Evangelos trug auf dem Foto den neuen Pullover, den sie ihm gerade vor einem ­Monat geschenkt hatte. Auf seinem Knie saß ein kleines, dunkelhaariges Mädchen, vor ihm auf dem Tisch prangte ein Geburtstagskuchen mit einer großen „5“ darauf. Kein weiterer Kommentar, kein Name, nur das Bild. Egal, wer es gepostet hatte und warum: Es war ein Foto aus letzter Zeit, in der ihr Mann angeblich auf Geschäftsreise gewesen war. Wer war das Kind? Führte ihr Mann ein Doppel­leben? Konnte das sein? Die Zweifel raubten ihr den Schlaf. Sie sei naiv wie ein verliebtes Mädchen gewesen, schalt sie sich und nahm sich vor, ihn bei passender Gelegenheit zur Rede stellen. Die Gelegenheit ergab sich nicht: Evangelos überhäufte sie mit Geschenken, war zärtlich, fürsorglich, achtsam – ein wunderbarer Mann und Liebhaber. Und doch ein Betrüger? Sie beauftragte heimlich eine Detektei. Sie wollte Gewissheit haben. Sie fühlte sich selbst wie eine Betrügerin, wenn sie gemeinsam mit Evangelos Konzerte oder Ausstellungen besuchte, während Detektive sein Leben durchkämmten.

Als sie Gewissheit hatte, änderte sich nichts. Er fuhr weiter zur Mutter seines fünfjährigen Sohnes ins Rheinland, besuchte seine griechische Geliebte und umsorgte Sophie zugleich mit liebevoller Aufmerksamkeit. Sie schwieg und versuchte so zu leben, als wisse sie nicht, was sie wusste. Das Wissen ließ sich nicht rückgängig machen und vergällte ihr seine Zärtlichkeit. Sie wollte nicht auch ihre zweite Ehe scheitern sehen, auf keinen Fall. Sie biss die Zähne zusammen. „Geht es dir schlecht?“, fragte er besorgt. „Nein“, log sie und litt Höllenqualen der Eifersucht, während er freundlich und zufrieden sein Leben an ihrer Seite lebte. Sie wollte ihn nicht verlassen und wollte nicht, dass er sie verließ. Sie wollte, dass sie beide im gleichen Maße Freude und Leid teilten. Freude hatten sie geteilt, jetzt kam der Schmerz. „Ich bin von diesem Mann abhängig wie von einer Droge“, erkannte sie. „Ich könnte ihn nie verlassen, solange er lebt“ – das war die Wahrheit. Aber wahr war auch der Umkehrschluss.

Sie ließ im Garten Oleanderbüsche pflanzen. Oleander wächst schnell. „Sei vorsichtig damit, Oleander ist giftig“, warnte er. „Keine Sorge“, lachte sie und küsste ihn flüchtig auf die Wange, „ich esse ihn ja nicht.“ Ihm aber schnitt sie gelegentlich Oleanderblätter in seinen Salat und kochte sie feingehackt mit dem Kaffee für seinen schwarzen Morgen- und Mittagespresso. Damit wir die Qualen unserer Beziehung gleichmäßig ver­teilen, sagte sie sich, wenn sie ihn leiden sah. Sie wollte ihn nicht töten, nur quälen. „Bei mir sind es die Eifersucht und die Enttäuschung, bei dir die Oleanderblätter, die uns das Leben vergällen.“ Das dachte sie, aber sagte es nicht.
Sophie schob entschlossen den Witwenschleier aus ihrem Gesicht über Stirn und Haar und setzte sich aufrecht. Da lag er. Bleich und tot. Fliegen saßen nun auf Gesicht und Brust des Mannes, den sie geliebt hatte wie keinen sonst. Den sie gehasst hatte wie keinen sonst. Wut und Trauer erfüllten sie und trieben ihr Tränen in die Augen.

„ϒαті?!“, riefen die schwarzen Frauen hinter ihr und hoben die Hände zum Himmel. „Warum?!“ Sophia umklammerte den Griff des schwarzen ­Fächers, bis die Knöchel ihrer Hand weiß waren wie Evangelos’ Gesicht. Dann schlug sie zu. „Darum“, sagte sie, und die Fliegen stoben auseinander. „Darum!“ ¶

Foto: 123rf.com © antonel

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