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Fenster in eine andere Welt

geschrieben von Irene Lange im November 2016

Pastor Christoph Siedersleben hat ein offenes Ohr für die Sorgen der Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt – von Emilia Püschel

Christoph Siedersleben schließt die schwere Eisentür auf, stellt eine Kaffeekanne und zwei Porzellantassen auf den Tisch und lässt sich auf einen Stuhl mit dem Rücken zum Altar sinken. Der Pastor deutet auf ein schwarzes Kästchen an seinem Hosenbund. „Das Personen-Notruf-­Gerät“, sagt er mit seiner sonoren Stimme, die im leeren Kirchenraum widerhallt. „Wenn ich an dieser Schnur ziehe oder den roten Knopf hier drücke, wird der Alarm ausgelöst, dann stürzen die Beamten los.“ Der 56-Jährige hat einen ganz besonderen Arbeitsplatz: Er ist evangelischer Seelsorger im Lüneburger Knast. Drei Jahre war er angestellt, seit Juni macht er ehrenamtlich weiter, bis im Februar ein Neuer seinen Job übernimmt.
In der Lüneburger Einrichtung, einer Abteilung der Justizvollzugsanstalt (JVA) Uelzen, kümmern sich schon seit vielen Jahren Pastoren um die Sorgen und Nöte der Gefangenen. „Wann das angefangen hat, weiß ich nicht“, sagt Hans-Jürgen Hundrieser, „ich selbst kenne das nicht anders“. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet der 61-Jährige im Vollzug, leitet im vierten Jahr die Abteilung Lüneburg. Christoph Siedersleben übernahm die Stelle des Gefängnis­seelsorgers im Juni 2013. Zuvor war er 20 Jahre als Gemeindepastor in Wallensen tätig. Als seine Pfarrstelle gestrichen wurde, stieß er auf die Stellen­anzeige im Knast. „Ich dachte: Das ist genau mein Ding“, sagt er. Die Seelsorge habe ihm schon immer am Herzen gelegen, das Gefängnis erschien ihm dafür der ideale Ort.
Im Vorstellungsgespräch wurde der Pastor unter anderem gefragt, ob er supervisionerfahren sei, bereit sei, mit verschiedenen Konfessionen zusammenzuarbeiten und in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Eine weitere wichtige Bedingung: Es durften keine Eintragungen in seinem polizeilichen Führungszeugnis vorliegen. Siedersleben wurde ausgewählt, er konnte anfangen.
Vier Tage die Woche verbrachte der Seelsorger fortan in Uelzen, jeweils donnerstags war er in Lüneburg im Einsatz, führte Einzelgespräche mit den Gefangenen und leitete den Gottesdienst um 17.00 Uhr. Aufgaben, die er auch heute noch übernimmt – ehrenamtlich und aus Überzeugung.
Die halbe Stunde singen und beten mit den Insassen verschiedener ­Nationalitäten und Konfessionen macht Christoph Siedersleben nach wie vor Freude: „Nie zuvor habe ich eine Gemeinde gehabt, die so aufmerksam zuhört“, sagt er, „die Gefangenen sind mucksmäuschenstill. Ich glaube, sie spüren sehr genau: Der Gottesdienst bietet ihnen neben der harten Realität des Knastes ein Fenster in eine andere Welt.“
Rund 30 Männer ab 21 Jahren sitzen derzeit in Lüneburg in Untersuchungs­haft. Ihnen „ein Stück Halt zu geben in dieser unsicheren Situation“, das treibt den Pastor an. Er habe gemerkt, „wie wichtig diese Aufgabe ist“. Die Gespräche mit dem Seelsorger bieten den Gefangenen Abwechslung hinter Gittern – und die Möglichkeit, sich jemandem im geschützten Rahmen anzuvertrauen. „Ihre Besuche und Telefonate werden mitgehört, ihre Briefe gelesen. Der einzige, mit dem sie offen reden können, bin ich.“
Christoph Siedersleben hat mit Mördern, Kinderschändern und Vergewaltigern gesprochen, ist zu ihnen in die Zellen gegangen, hat ihren Sorgen Gehör geschenkt, mit ihnen gebetet. „Viele wollen darüber reden, wie es Frau und Kindern geht, oft ist auch das Erschrecken über das, was man angestellt hat, Thema.“ Justizbeamte waren weder in der Zelle noch beim Gottesdienst dabei. „Doch Angst hatte ich nie“, sagt der 56-Jährige. Nur bei seinem allerersten Gang durch den Knast habe er ein mulmiges Gefühl gehabt.
Angetreten ist der Pastor vor dreieinhalb Jahren mit dem Ziel, den Männern zu helfen, sich zu ändern. „Dass sie, wenn sie draußen sind, ihr Leben aktiv gestalten können, um möglichst nicht wieder im Knast zu landen“, erklärt er. Ob er nachhaltig etwas für die Gefangenen tun konnte, das kann er nicht mit letzter Sicherheit sagen.
Was er aber weiß, ist: Die Häftlinge, die Atmosphäre zwischen vergitterten Fenstern, Sicherheitsschleusen und verschlossenen Eisentüren, all das hat etwas mit ihm gemacht. „Im Knast hat man überwiegend mit Not zu tun“, sagt er. Und das will Siedersleben auf Dauer nicht mehr. Wenn der Neue kommt, hört er auf. Künftig möchte er wieder mit der ganzen Lebensspanne von der Geburt bis zum Tod zu tun haben, Leid, aber auch Freude erleben.
Die Zeit im Gefängnis hat Christoph Siedersleben verändert, sie hat ihn mehr Dankbarkeit für das eigene Leben gelehrt und nachdenklich gemacht. „Wenn ich jetzt zurück in die Gemeinde gehe, will ich schärfer gucken: Wen übersehen wir von denen, die Hilfe brauchen“, sagt er. „Das nehme ich als Vorhaben mit.“ ¶

Fotos: Irene Lange

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