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Kulturhistorische Prominenz

geschrieben von Natascha Mester im September 2011

Die Alte Raths-Apotheke in Lüneburg

Die Alte Raths-Apotheke in der Großen Bäckerstraße 9 ist mit der Zeit so etwas wie eine regionale Berühmtheit geworden. Nicht selten sieht man ihr „Gesicht“ in der Tageszeitung, nicht selten fällt in Fachkreisen von Restauratoren, Denkmalschützern und Stadthistorikern ihr Name. Sie scheint ein Schatzkästlein, wenn es um pharmazeutische Gepflogenheiten aus dem 16. Jahrhundert geht. Ihre Schätze, die architektonischen, die kunst- wie kulturhistorischen, gibt sie allerdings wohldosiert preis. Das Überraschungsmoment scheint ihr offensichtlich ein Anliegen zu sein.

So war es auch vor wenigen Wochen, als der In­haber des Hauses und Apotheker im Ruhestand, Gert Wellsow, eher zufällig in einem Fachmagazin stöberte und daraufhin eine Neuentdeckung an die Presse meldete. Entschlüsselt hatte er nach fast 30-jährigem Rätselraten ein weiteres Detail, das an verschiedenen Figuren des üppigen Portals zu finden ist: eine faustgroße Kugel, in der Hand oder an einer langen Kordel um den Hals getragen. Ein so genannter Bisamapfel sei dies, hieß es, ein Gefäß, das die wohlhabenden Bürger mit Bisam gefüllt, so die alte Bezeichnung für Moschus, trugen. Diese Gepflogenheit kam aus dem Orient nach Europa, man glaubte noch an das Vertreiben von Krankheit durch Wohlgerüche. Eine solche aus Silber gearbeitete Kugel aus dem 16. Jahrhundert ­befindet sich auch im Besitz des Fürstentummuseums; man schreibt sie der Patrizierfamilie Töbing zu. Auch auf Bildern, die im Traubensaal des Rathauses zuhause sind, halten die Bürgermeister ebendiesen Bisamapfel in den Händen – offensichtlich ein recht gebräuchlicher Gegenstand, auch in der Lüneburger Renaissance.

ow in seinem Wohnhaus besuche, breitet sich vor mir dank seines unendlichen Wissensschatzes nicht nur die Historie der damals ersten Apotheke Lüneburgs aus, sondern auch ein weit zurückliegendes Bild unserer Stadt: Im frühen Mittelalter, so beginnt er seine Erzählung, waren es Straßenbuden, die Heilmittel vertrieben. Und so mag man vermuten, dass sich auch in der Apothekenstraße in Lüneburg diese Buden angesiedelt hatten. Als die Apotheken schließlich in feste Häuser umsiedelten, richtete man in den oberen Räumen so genannte Kräuterkammern ein – in den Obergeschossen deshalb, weil diese meist trocken waren und einen geeigneten Platz zum Lagern für Kräuter abgaben. Den Keller nutzte man hingegen, um die zu kühlenden Bestandteile der Arzneien aufzubewahren.

Schmale Stiegen führen in die ehemalige Kräuter- und Materialkammer der Alten Raths-Apotheke ­hinauf – eintauchen in die Zeit der Renaissance, ins 16. Jahrhundert. Hier mutet es wunderbar altertümlich an, der Duft getrockneter Kamille hängt leicht in der Luft. Eine Wand verschwindet gänzlich hinter einem Apothekenschrank, dessen zahllose hölzerne Kästen fein säuberlich mit lateinischen Begriffen versehen sind.

Aufschluss über das Alter der noch existenten Inhalte der Apothekenkästen gibt das originale Inventarverzeichnis der Apotheke von 1475.

Viele von ihnen enthalten noch heute den Inhalt, auf den die Beschriftung hinweist. Ihr Mindesthaltbarkeitsdatum ist sicher längst überschritten; das originale Inventarverzeichnis der Apotheke von 1475, das wohl älteste komplette in Deutschland, das sich im Archiv der Stadt Lüneburg befindet, gibt Auskunft über das wahre Alter. Dank diesem war es ihm möglich, einen Großteil des Inhalts der Apothekerkästen aus der Kräuterkammer zeitlich einzuordnen. Das Verzeichnis enthält sowohl eine Auflistung der damals vorhandenen Waren als auch deren Preise. Der kostspieligste Posten: Zucker. Zucker, so weiß Gert Wellsow, war damals ein teures Gut und ähnlich wie das Salz mit Gold aufzuwiegen. Es gab weder Zuckerrübe noch Zuckerrohr, die süße Rarität wurde auf Kreta aus Honig hergestellt um schließlich über Venedig auch nach Lüneburg zu gelangen. Die Wohlhabenden kauften es für den eigenen Genuss, der Apotheker konservierte damit seine Zutaten und Arzneien oder stellte Süßigkeiten her.
In den hölzernen Kästen entdecke ich unter an­derem eine frühe Form des Pflasters, eine in Stäbchenform gerollte schwarze Masse, die sich, auf die Haut aufgebracht, durch die Körpertemperatur erwärmen und nach Wunsch formen ließ. „Emplastrum“ lautete der korrekte Begriff und bezeichnete seinerzeit eine Art Paste, die für Umschläge verwendet wurde. Diese Trägermasse aus Wachs, Bleisalzen und Fetten enthielt wohldosiert Bestandteile wie das schmerzstillende Bilsenkraut – heute kennen wir eine ähnliche Anwendung in Form des Schmerzpflasters. Viele der zum Teil absurd anmutenden Arzneimittel erfahren heute eine Renaissance, den Wirkstoff des „Hexenmittels“ Bilsenkraut finden wir aktuell in hochwirksamen Pfläs­terchen gegen die Reisekrankheit wieder. Eine weitere Skurrilität sind die kleinen weißen molch­artigen Wesen (Stinci), die, fein säuberlich getrocknet, wie Wesen aus der Urzeit anmuten und pulverisiert vermutlich ein Aphrodisiakum zur Steigerung der Manneskraft darstellten.

Was man hier sieht, ist rein museal, weist Gert Wellsow noch einmal auf die heutige Bestimmung der Material- und Kräuterkammer hin. Hier werden keine Arzneien mehr hergestellt. Aus dieser Zeit stammt noch der mannshohe Stößel, mit denen man bis 1850 in gewaltigen Mörsern die Arzneibestandteile zerrieb. Die Berufsbezeichnung lautete Stößer; dieser verrichtete seine Arbeit in einer so genannten Stoßkammer – keine zweideutige Bezeichnung für einen zweckentfremdeten Raum, scherzt Gert Wellsow, sondern es handelte sich dabei um Kammern mit einem festen Boden, der nicht vibrierte, wenn es beim Zerstoßen von hartschaligen Ingredienzien einmal kraftvoller zuging.

Der Begriff der Materialkammer ist ein sehr viel jüngerer, erst Mitte des 19. Jahrhunderts kamen diese Räumlichkeiten auf. Hier bewahrte man die bereits vorbereiteten, weiter verarbeiteten Arzneiestandteile auf, die man nun schon kaufen konnte.
Die Geschichte des nachweislich ersten Apothekers in Lüneburgs geht auf das Jahr 1294 zurück. Seit 1598 befindet sich die Alte Raths-Apotheke nun in dem imposanten Renaissancegebäude in der Großen Bäckerstraße Nr. 9. Seither war es immer der Berufsstand der Apotheker, der dort wirkte. Wellsow selbst kam 1972 als junger Apotheker aus der nahen Hansestadt Hamburg als neuer Pächter nach Lüneburg. 1980, nach dem Tod der Besitzerin, kaufte er das Gebäude und veranlasste seither zahlreiche restauratorische Maßnahmen. Ihm, seinem Forschergeist und seiner Liebe zu diesem Haus ist es zu verdanken, dass jene beachtliche Anzahl geschichtlich relevanter Informationen ans Tageslicht dringen durften. Die aufwendige Res­taurierung des Portals 1988/89 erregte sogar den Unmut vieler Lüneburger. Man war empört über die wenig dezente Farbgebung – es fehlte die Vorstellungskraft, dass die verwendeten Farben tatsächlich dem Original entsprachen. Nach einer Untersuchung von 298 Farbproben, die aus drei Farbschichten entnommen wurden, ist dies ist nun belegt. Ebenso festigt sich die Vermutung, dass der Farbauftrag um 1598 von dem Künstler Daniel Freese vorgenommen wurde.

Bis in das Jahr 2000 stand Wellsow selbst hinter dem Verkaufstisch und bediente seine langjährigen Kunden. Bis heute lebt er ein Stockwerk über seiner ehemaligen Arbeitsstätte, die er an einen würdigen Nachfolger verpachtet hat – und bis heute lässt ihn die Geschichte des Renaissance-Baus nicht los. Zu viele Geheimnisse sind ihm noch zu entlocken. Allein den kunsthistorischen Funden müsste man ganze Kapitel widmen. Da wäre beispielsweise die bemalte Decke des Wohnraums im zweiten Stock, für die der Restaurator Markus Tillwick bereits während seines Studiums Daniel Frese als Künstler entdeckte und für ihre partielle Freilegung sorgte. Morsche Deckenbalken sollten verstärkt werden, dazu mussten Bretter auf der Ebene der Kräuter- und Materialkammer hochgenommen werden – was man entdeckte, waren dekorative Elemente und die Nennung der Namen und Lebensdaten von bedeutenden Wissenschaftlern des 16. Jahrhunderts – so auch der des ersten Anatoms dieser Zeit, Vesalius. Die künstlerische Ausgestaltung einer Apotheke war im Übrigen nicht gang und gäbe, und man darf daraus schließen, dass der damalige Besitzer, der Rat der Stadt Lüneburg, auf den hohen Bildungsstand des Apothekers vor allem mit diesen Deckenmalereien Hinweis geben wollte.

Auf Tillwick, der bereits zum offiziellen Restaurator für die Holzarbeiten in der Alten Raths-Apo­theke berufen worden ist, gehen noch weitere Entdeckungen zurück, so auch die Untermalungen der Materialkästen, die in späteren Jahrhunderten dem Zeitgeschmack angepasst und mit einer braunen Farbschicht überzogen wurden. Unter dieser förderte er mit einer beachtenswerten Geduld die Ursprungsbemalung von etwa 1598 zutage, eine Beschlagwerkornamentik sowie die lateinischen Beschriftungen.

In den Räumen, die seit ihrer Restaurierung und Renovierung beinahe den Anschein erzeugen, als komme in nächster Minute der Apotheker des 16. Jahrhunderts durch die Türe spaziert, um seinen Vorrat an Bockstalg oder „piper nigrum commune“, schwarzem Pfeffer, aufzufüllen, scheint man Geschichte zu atmen, eine Geschichte, die hier greifbar und unmittelbar wird – echte Lüneburger Historie zum Anfassen. Wer sich interessiert, findet weitere Informationen auf der Internetseite www.alterathsapotheke.de, auf der auch ein chronologischer Abriss der Geschichte zu finden ist. In der Apotheke selbst ist eine kleine Broschüre über ihre Historie und die wichtigsten Eckdaten erhältlich.

Das Salzmuseum Lüneburg hat darüber hinaus eine DVD mit dem Titel „Die Alte Raths-Apotheke in Lüneburg. Schätze der Kräuterkammer“ herausgegeben. Fragen Sie auch gern Gert Wellsow nach einer privaten Führung. So er die Zeit findet, haben sie in ihm ein lebendiges Lexikon, das auf fast alle Fragen zur Geschichte der Raths-Apotheke eine Antwort weiß.(nm)

Fotos: Enno Friedrich

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