Ein deutsches Phänomen
geschrieben von Rüdiger Albert im Dezember 2013Aktentasche versus Aktenkoffer: Eine kleine Stilkunde

Als zu Beginn der 70er-Jahre der Diplomatenkoffer auf allen deutschen Aufsteiger-Weihnachtstischen lag, ahnten wir ja bereits, dass es mehr Koffer als Diplomaten geben müsse. Als wir dann aber Anfang der 80er-Jahre in U-Bahnen und Morgenfliegern mit empirisch geschultem Blick Aktenkofferträgern in ihre Kiste geblickt hatten, wussten wir angesichts der Taschenrechner, Computerfortbildungsprogramme und des verschämt im Geheimfach steckenden Männermagazins, dass es auf dieser Welt noch mehr Koffer als Akten zu geben schien. Die Träger hielten nicht, was die schikanenreichsten Koffer versprachen. Und viel zu selten begegnet man heute noch einem wirklich eleganten Attaché wie dem flunderflachen der Firma Seeger aus weichem Lammnappa. Da passt neben einem Vertrag noch die FAZ rein und dann: Klappe zu. Mehr braucht ein Mann von Welt auch nicht – und der ist selten. Deshalb wollen wir uns ab sofort über das gruselige Thema Aktenkoffer in Schweigen hüllen. Viel zu viel Skai, zuviel Plastikkroko, Alu – zu wenig Stilbewusstsein und Redlichkeit.
Ja, die Redlichkeit – ein schönes, ein antiquiertes, ein deutsches Wort. Es passt, um eine Aktentasche zu beschreiben. Eine Aktentasche ist existentiell. Döblin- und Brecht-Figuren ist sie an die Fahrradstange gewachsen: Die Aktentasche wurde Symbol des redlich um seine Existenz kämpfenden Menschen, selbst in Kriegszeiten zum Kohlenklau. Ende der Fünfziger dann geriet die Tasche ins Hintertreffen. So etwas trug nur noch Heinz Erhardt als Witzfigur im Film; nur noch in der Straßenbahn sah man Aktentaschen und in den Pausenräumen der Fabrikhallen. Solide beförderte sie die Bildzeitung, Mariacron und die Butterstulle zur Baustelle. Die Aufsteiger in der jungen Republik wurden Männer mit Koffer. Eine machtvolle Position dieses durch und durch soliden Begleiters jedoch vergönnen ihm ausgerechnet jene, die mit den Attributen der Aktentasche (solide, ehrlich, redlich) nicht unbedingt immer identisch sind: die bundesdeutschen Parlamentarier. Bis heute wehren die Politiker erfolgreich alle Angriffe des ungeliebten Attachés auf ihre Aktentasche ab. Warum? Was schätzen Parlamentarier eigentlich an der Aktentasche? Fragen über Fragen. Und ihre Beantwortung bedarf einer kleinen Erinnerung.
Der aktenkoffer: Viel zu viel Skai, zuviel Plastikkroko, Alu – zu wenig Stilbewusstsein und Redlichkeit.
„Eine Aktentasche will sorgfältigst ausgewählt sein“ erklärte dereinst der Chef der Luxus-Ledermanufaktur Seeger, „denn sie begleitet seinen Träger häufiger als seine Ehefrau.“ Keine Frage also: Mit der Tasche nimmt der Träger seine gesellschaftliche Imagepflege in die Hand.
Die Lederne brilliert im Dunstkreis der Mächtigen. Insbesondere deutsche Politiker betrachteten sie als Zubehör und Bestandteil des täglichen Politlebens. Egon Bahr, Norbert Blüm und Hans Diedrich Genscher stellten mit ihr zusätzlich zum Macht- auch Traditionsbewusstsein zur Schau.
Zu großen politischen Zielen – auch wenn sie scheiterten – gehört die Aktentasche seit 200 Jahren. Napoleon I. transportierte die Pläne zur Vereinigung Europas in einer Aktentasche von Schlachtfeld zu Schlachtfeld. Die entscheidende Schlacht verlor der französische Kaiser. Der Code civil und die Aktentasche blieben. Napoleons gutes Stück schmückt in Offenbach eine Vitrine des Ledermuseums.
In den USA spielte sie in den Fünfzigern auf politische Weisung hin in Merkblättern zum Schutz gegen atomare Strahlungen eine makabre Rolle. Der Film „Atomic Café“ hat sie festgehalten. Er zeigt den Amerikanern, was im Falle einer A-Bomben-Explosion zu tun ist: In geschlossenen Räumen hilft angeblich ein Sprung unter den Stuhl oder den Schreibtisch. Im offenen Gelände freilich empfiehlt der Staat ernsthaft das Tragen von Aktentaschen – über den Kopf gestülpt verpuffe der Angriff atomarer Millirem spurlos am Leder.
Herbert Wehner kann man sich ohne Aktentasche ebenso wenig vorstellen wie ohne Pfeife. Wehner, der langjährige Fraktionsvorsitzende der SPD, zog 1974 eine spaltenlange Liste des Bundeskriminalamtes und einen delikaten zehnseitigen Bericht des Oberverfassungsschützers Nollau über Willy Brandts Damen-Affären aus den Fächern seiner Aktentasche. Brandt, ein Politiker der großen Visionen, aber keiner für die schnöde Tagesarbeit, war auf dem Scheitelpunkt der Guillaume-Affäre auf die raffinierte Attacke nicht vorbereitet und trat zurück. Hätte Wehner einen Attaché benutzt, wäre Brandts Blick womöglich schon vorher auf die kompromittierenden Dokumente gefallen.
CSU-Chef Franz Josef Strauß setzte sich am 2. Juli 1979 gegen Ministerpräsident Ernst Albrecht als Kanzlerkandidat der Union durch. Kaum eine der nächsten Wahlveranstaltungen ging ohne Tumult ab. Strauß machte Egon Bahr für die Krawalle verantwortlich. Bahr wehrte sich per Klage.
Die aktentasche: in den Etagen der Macht scheint sie ein typisch deutsches Phänomen zu sein.
Am 3. Oktober des Jahres sollte Strauß in Bochum vor Gericht erscheinen. FJS ließ sich von CSU-Generalsekretär Edmund Stoiber vertreten. Egon Bahr erschien persönlich mit seiner Aktentasche. Aus der zog er wie ein Kaninchen aus dem Zylinder Unterlagen zu seiner Entlastung. Das Resultat: Strauß durfte nicht mehr behaupten, SPD-Bundesgeschäftsführer Egon Bahr sei „der Initiator der SPD-gesteuerten und -aufgeladenen Krawalle“ bei Wahlkampfauftritten von Strauß gewesen. Das Traditionsgepäck hat mit Sicherheit die Seriosität der Bahrschen Argumentation unterstrichen.
Allein Hans-Dietrich Genscher überstand die politischen Wirrungen und Verirrungen der 70er-Jahre unbeschadet. Der FDP-Politiker wechselte rechtzeitig das Ministerium – aber nie seine Aktentasche. Genscher ließ nur bei herausragenden gesellschaftlichen Ereignissen, den Festspielen in Bayreuth zum Beispiel, die Tasche im Schrank. Dann zeigt er sich mit seiner Ehefrau.
Dem französischen Staatschef Francois Mitterand und dem amerikanischen Präsidenten George Bush freilich wurden Vuitton-Koffer hinterher getragen. Sie wurden auch viel häufiger von ihren Ehefrauen begleitet. Die Aktentasche in den Etagen der Macht scheint ein typisch deutsches Phänomen zu sein.(ra)
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