Magazin über das Leben in Lüneburg
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Bullenschluck

geschrieben von Kurt-Achim Köweker im Oktober 2013

Neues aus der Kurzgeschichten-Feder

Kirch-Müller saß auf der Terrasse seines Häuschens, trank einen Schluck Kaffee, ließ seinen Blick durch sein Gärtchen schweifen und seufzte. Arbeit, wohin er sah. Aus den Fugen der Terracotta-Fliesen drängte sich das Unkraut. Seine Frau hatte die Buchsbäumchen beschnitten, den Beschnitt jedoch liegen lassen; das Wegräumen gehörte zu den niederen Arbeiten, für die er sich zuständig fühlte.
Der Pastor im Ruhestand seufzte erneut. Die Zeitung neben ihm war noch ungelesen; zuoberst lag ein handgeschriebener Zettel mit den Aufgaben, die ihm seine Frau notiert hatte, bevor sie zur Arbeit aufgebrochen war: Staubsaugen, Küche und Flur wischen, Staub putzen, Bettenmachen, Einkaufen, Garten! Letzteres unterstrichen, als sei dort lang Versäumtes nachzuholen.

Oben in seinem kleinen Arbeitszimmer lag die Bibel, wartete der Computer mit einem halbfertigen Artikel. Müller schrieb immer noch Predigten, obwohl er nur noch selten aushilfsweise für einen Gottesdienst geholt wurde. Das Schreiben war ihm nach Stunden der Hausarbeit wie eine Erholung. „Er sitzt zu Hause und schreibt für die Schublade“, sagte die agile Frau Müller, wenn sie mit Freundinnen von ihrem Mann sprach; sie arbeitete halbtags, spielte nebenbei Tennis und engagierte sich politisch, so dass wenig Zeit blieb, um auch mit ihrem Mann zu sprechen. „Er frisst sich gern in seinen Büchern fest und merkt gar nicht, wie aufregend das Rentner-Leben noch sein kann.“
Müller trank einen weiteren Schluck, griff danach zum Kugelschreiber, ergänzte die To-do-Liste seiner Frau um die Punkte „Geschirr und Espressomaschine spülen“, öffnete die Keksdose und bediente sich. Die Septembersonne schielte durch die Wolken. Er könnte jetzt am Vormittag seinen Laptop herunter holen und auf der Terrasse gegen sich selbst eine Partie Schach spielen. Oder weiter an einem seiner exzellenten Aufsätze schreiben — Kaffee und Keks und Sonne vor sich, die Beine ausgestreckt unterm Gartentisch. Leider lag da auch die Liste mit der eleganten Frauenhandschrift und der staksigen eigenen.

Das Telefon riss ihn aus seinen Betrachtungen. Fiedler, ein Freund und ehemaliger Pastorenkollege, bat um Hilfe: Er habe in drei Stunden eine Beerdigung, sei aber nicht in der Lage, das Haus beziehungsweise die Toilette zu verlassen; ein Durchfall, wie man ihn sich schlimmer von keiner Urlaubsreise in den Orient holen könne, habe ihn heimgesucht; ob er, Müller, ihm aus der Bredouille helfen könne. Er würde ihm die nötigen Unterlagen gleich per E-Mail schicken lassen; außerdem liege der Ricklinger Friedhof ja quasi in seiner Nachbarschaft.

Er spiele heute noch in Bars und in Kurhäusern, in einer Friedhofskapelle habe er allerdings noch nie Musik gemacht.

Der Ton des Kollegen klang erbarmungswürdig; Müller erbarmte sich voller Freude. Er wurde gebraucht. Er würde es nicht kurz machen, sondern eine seiner großartigen Predigten an den Mann bringen. Er konnte improvisieren, wenn es darauf ankam. Er hatte vor Jahren ein Pärchen auf freiem Feld unter einer Linde getraut; einem Skat-Verein versprochen, in der Sonntagspredigt zwölf Skat-­Begriffe unterzubringen, sofern die Mitglieder vollzählig zum Gottesdienst erschienen – und es geschafft!; er war ein toller Hecht gewesen und ein guter Theologe war er immer noch. „Wie viel Zeit habe ich noch?“ „Zweieinhalb Stunden“, stöhnte der Kranke. „Also gut“, freute sich Müller, „das schaffe ich.“ Er trank aus, ließ Zeitung, Geschirr und Notizzettel liegen, stieg hinauf in sein Zimmer, zog die dunkle Hose und schwarze Schuhe an, packte Talar, Bäffchen und Bibel ein, druckte die E-Mail aus und las. Es gab außer dem Namen wenig zu lesen. Der Verstorbene war ein 76 Jahre alter Herr, der in einem Heim für allein stehende Männer gelebt hatte. Das war alles. Nun gut. Er war guten Mutes und machte sich auf den Weg. Das Auto hatte seine Frau mitgenommen, also schwang er sich aufs Rad und trat in die Pedale.
„Quasi in der Nachbarschaft“ erwies sich als erheblich weiter entfernt, als er gedacht hatte. An der Friedhofskapelle erwartete ihn der städtische Bestatter schon ungeduldig. „Sie sind schon drin“, sagte er und wischte sich die schweißnasse Stirn, „wir gehen uns dann mal die Füße vertreten und sind rechtzeitig wieder da.“ Und schon verschwand er mit und seinen Gehilfen in einer schattigen Allee. Müller stülpte sich den Talar über, nahm Bibel und seine Notizen und betrat die Kapelle. Als erstes fiel ihm der Mann ins Auge, der in der ersten Reihe im matten Sonnenlicht eingedöst war — zwischen den ausgestreckten Beinen eine braune Leder­aktentasche balancierend. Das schwarze Jackett war aufgeknöpft wie auch teilweise das weiße Hemd darunter. Seine eine Hand auf dem Nachbarstuhl hielt einen schwarzen Hut, der Kopf mit den wirren grauen Haaren war auf die Brust ge­sunken. Er mochte in den Sechzigern sein. Bis auf ihn und den Verstorbenen in seinem einfachen, schmucklosen Sarg war die Kapelle leer. Müller sah die kleine elektronische Orgel und die leere Bank davor. „Wo ist …“ — er unterbrach seine Frage, da er niemanden sah, der ihm hätte antworten können. Das tat unaufgefordert der Mann in der ersten Reihe, der aufgewacht war und sich aufgerichtet hatte: „Eingespart, die Stadt muss sparen, bei Leuten aus dem Bullenkloster kommt nur die Sparversion in Frage. Musiker kosten Geld!“ Er streckte Müller die Hand entgegen. „Popescu mein Name, aber du kannst Dan zu mir sagen, wir nennen uns alle nur beim Spitznamen!“ „Müller“, sagte Müller überrumpelt und schüttelte Popescu die Hand. „Was stehende Männer, da hat er die letzten Jahre gelebt. „Bullenkloster“ haben wir’s genannt. Pepe fand das lustig. Die Sache auf den Punkt gebracht, wie er sagte.“ „Wer ist Pepe?“ „Der da“, antworte Popescu, ging zum Sarg und klopfte auf den Deckel, „einer der größten Gauner, die ich kenne, und ein herzensguter schwacher Mensch, einer wie ich und du. Bist du auch einer seiner Freunde?“
Müller trat einen Schritt zurück und stolperte dabei über die Aktentasche, er meinte ein Klirren von Flaschen zu hören. Popescu war mit einem Schritt an der Tasche, hob sie vorsichtig auf den Stuhl und schaute hinein. „Sind noch ganz, Gott sei Dank, sonst hätte ich Schwierigkeiten mit ihm bekommen.“
„Herr Wilfried Linde ist tot“, sagte Müller und hoffte, mit der förmlichen Anrede sich den Fremden mit seinem penetranten „du“ vom Halse zu halten, „ich kenne ihn nicht und weiß nichts von ihm – außer seinem Namen, Herr Popescu!“ „Sag Dan zu mir. Unter Freunden sagt man du. Freunde sollen ihn begleiten, wenn er in die Grube fährt, sagte er immer, und sollen einen Bullenschluck auf sein himmlisches Wohl nehmen, bitte sehr.“ Popescus Blick streifte die Ledertasche auf dem Stuhl.

„Herr Gott!“, entfuhr es Müller und er schloss seinem unbeherrschten Stoßseufzer ein salbungsvolles „Der du die Menschen kennst und ihre geheimsten Gedanken, verzeih!“ an. „Amen“, sagte Dan, „aber weißt du, ich glaube, ich kenne den Pepe besser als Gott. Komm, setz dich zu mir, dass ich dir von ihm erzähl!“ Er setzte sich und klopfte einladend auf den Stuhl neben sich. Während Müller sich widerstrebend neben Popescu niederließ, überlegte er fieber­haft, was zu tun sei. Aufzustehen und zu gehen und den Toten im Sarg mit dem seltsamen Hinterbliebenen einfach zurückzulassen, war der nächstliegende Wunsch, dessen Erfüllung er sich allerdings verbat. Aber was dann?
„So wollen wir denn Abschied von ihm nehmen“, machte er einen neuen Anlauf. Unwillkürlich musste er daran denken, dass sich dieses Abschiednehmen noch fünfzehn Minuten hinziehen konnte, wenn der Bestatter erst nach der vollen Predigtzeit, also frühestens nach einer Viertel­stunde, wieder erscheinen würde. Wenn es wenigstens einen Organisten gäbe, um durch Singen die Zeit zu verkürzen.

Popescu schien die Gedanken erraten zu haben. „Willst du Musik? Ich kann spielen. Ich bin Pianist und habe in den sechziger Jahren in den Bars an der rumänischen Schwarzmeerküste gespielt. Da habe ich auch Pepe kennen gelernt. Er machte Urlaub dort, brachte aus der alten Bundesrepublik Kugelschreiber, Strumpfhosen und Jeans mit und finanzierte sich damit seinen Sommerurlaub und schleppte die hübschesten Mädchen ab. Er spielte Schlagzeug und konnte singen wie Frank Sinatra.

Mein Leben war wie dieser Sulinger Schnaps – erst leckt man sich die Lippen­­danach, dann brennt es wie Hölle, dann tut es gut; der Kater kommt später.

Die Leute waren hin und weg, wenn er ans Mikrofon ging. „My Way“, das war sein Lieblingslied, warte mal …“
„Bitte“, winkte Müller mit schwacher Stimme ab, doch Dan schien es als Ermutigung aufzufassen. „Wenn du willst. Aber es ist lange her!“ Er setzte sich an die elektronische Orgel und fummelte an den Schaltern. „Weißt du, Pepe war bekannt in den Badeorten an der Schwarzmeerküste zwischen Konstanza und Efforie, und ich mit ihm. Pepe und Dan – wir waren wie Brüder. Wie heißt du?“
„Heinrich“, antwortete Müller automatisch und biss sich sofort auf die Lippen. „Ja, Henry“, sagte Dan und strahlte ihn an, „dann müssen wir beide wohl die Freunde sein, die Pepe sich gewünscht hat für seinen letzten Tag. Wenn auch ein bisschen improvisiert.“ Er begann zu spielen und es klang in seiner eigen­willigen Orgel-Version nicht einmal schlecht. Seit zwanzig Jahren lebe er in Deutschland, erklärte er zwischen den Akkorden; er spiele heute noch in Bars und in Kurhauskapellen, in einer Friedhofskapelle habe er allerdings noch nie Musik gemacht.

„Ja“, sagte Müller müde, „man muss improvisieren können, ich muss das auch.“
Das verstand Dan. „Schau, der Pepe konnte das auch – improvisieren. Ich habe ihm damals in Rumänien Antiquitäten besorgt, auch Ikonen, auf die war er ganz scharf. Die hat er nach Deutschland geschmuggelt und dann zu Geld gemacht. Viel Geld damals. Ich sollte die Hälfte haben, wenn ich später nach Deutschland käme. Meine Altersversorgung sozusagen. Als ich zwanzig Jahre später kam, hatte er es „durchimprovisiert“, wie er es ausdrückte. Er lebte damals in Sulingen, da gab es diesen Schnaps, Bullenschluck. Wir haben damals einige Flaschen davon getrunken — erst auf die Freude unseres Wiedersehens, dann auf die Enttäuschung nach dem Wiedersehen, dann auf die Zukunft und die Musik und aufs Leben, alles andere war ja weg: das Geld, seine Weiber, seine Freunde. Übrig geblieben waren nur wir beide, ­Pepe und Dan, und die Musik. Die Musik hielt uns zusammen. Er wollte nach Hannover ziehen, ein neues Geschäft aufmachen, Pläne hatte er immer, wollte mir dann das Geld zurückzahlen. Er lachte, als er’s mir versprach, ich lachte auch. So war er eben. Wir haben uns seitdem nicht wieder­gesehen, nur dann und wann geschrieben, altmodische Briefe mit Tinte und Papier. Bis er in diesem Heim in Hannover gestorben ist, allein wahrscheinlich, allein und vergessen. Und deswegen begleite ich ihn heute, wie es sein Wunsch war. Der letzte Freundschaftsdienst. Schön von dir, dass du uns begleitest.“ Er stand auf und setzte sich zu Müller und drückte ihn. Der Pastor erwartete eine Alkoholfahne, doch es wehte nur ein verwaschener Duft von Eau der Toilette und fernem Knoblauch zu ihm herüber.

„Wir sind soweit“, sagte der Pastor, als er den Bestatter in der Tür sah. Sie erhoben sich und folgten dem Sarg hinaus durch die sonnenbeschienen Friedhofswege.
Der Pastor sprach sein Gebet am Grab, der Sarg wurde in die Grube gelassen.
„Ja dann“, sagte Popescu und nestelte am Verschluss seiner Akten­tasche.
„Nicht hier“, Müller zog ihn beiseite, nicht auf dem Friedhof.“ „Aber davor, das musst du mir ver­sprechen. Auf ein paar Meter wird es ihm nicht ankommen. Pepe hat im Leben ja auch nicht alles so ganz genau genommen!“ Als Müller sein Fahrrad aus dem Friedhofseingang schob, erwartete ihn Popescu schon und folgte ihm. Sie gingen schweigend neben einander im milchigen Septemberlicht. „Du, Herr Müller“, sagte er plötzlich, „es tut mir leid, wenn ich deine Beerdigung durcheinander gebracht habe.“
Der Pastor verkniff sich eine Antwort und wollte sich aus Rad schwingen. Popescu hielt ihn zurück, kramte einen Zettel aus der Tasche: „Lies das.“ Er lehnte Müllers Fahrrad an einen Baum und Müller las: „Dan, alter Freund, mein Leben war wie dieser Sulinger Schnaps – erst leckt man sich die Lippen danach, dann brennt es wie Hölle, dann tut es gut, der Kater kommt später, wenn du nicht aufpasst, und aufpassen konnte ich nie. Trink eine Flasche, aber nicht allein sondern mit einem besseren Freund als ich’s dir war. Versprich mir’s und verzeih. Pepe“.

„Also gut, aber nur einen symbolischen Schluck!“

Sie saßen auf einer Bank, Müllers Fahrrad lehnte an einem Baum, Popescu kramte eine Flasche aus seiner Tasche, zeigte auf den Verschluss: „Mach dir keine Sorgen wegen der Hygiene, alles original!“ Er packte zwei Schnapsgläser aus einem Geschirrtuch und wischte sie aus und schenkte ein. „Natürlich trinken wir nur symbolisch, weil – mit diesem Bullenschluck verzeihen wir dem Pepe seine Gaunereien. Und das Verzeihen schmeckt gut, wirst schon sehen. Schön, Herr Müller, dass du mit mir trinkst, dein lieber Gott wird es dir danken.“ Es sei ohnehin ein Tag für ihn, an den er sich lange erinnern werde, seufzte Henry und hob das Glas; der liebe Gott werde es ihm vielleicht danken, bei seiner Frau sei er da nicht so sicher. „Auf Pepe!“
„Soll ewig leben, der Pepe!“, sagte Dan und hob das Glas.“
„Amen“, sagte Müller und trank. ¶

Foto: Bullenschluck Manufaktur