Magazin über das Leben in Lüneburg
Themen
Alle Themen und Artikel

Judentum in Lüneburg

geschrieben von André Plusqua im Februar 2011

EIN AUFRECHTER IM BRAUNEN MEER: WIE PROFESSOR WILHELM REINECKE FÜR LÜNEBURGS JUDEN KÄMPFTE

Noch heute, Jahrzehnte nach dem Holocaust, stehen wir fassungslos vor diesem Verbrechen. Wie konnte das geschehen? In unserer Stadt, vor unseren Augen? Warum stand niemand dagegen auf, solange es Zeit war? In der Serie „Juden in Lüneburg“ stellt QUADRAT einen Mann vor, der es gewagt hat, eine Lanze für seine jüdischen Mitbürger zu brechen.

Noch mussten die rund 130 jüdischen Lüneburger Bürger keinen gelben Stern tragen. Noch durften sie ihre Synagoge besuchen, durften die Kinder in die Schulen gehen, und noch hatte es die Reichskristallnacht, die Deportationen, an deren Ende der Gastod stand, nicht gegeben. Trotzdem - wer sehen, hören und denken konnte, dem war die tägliche Hetze in Zeitung und Rundfunk unerträglich.

Was aber konnte man für die jüdischen Mitbürger tun?

Ratlosigkeit überall. Einer der angesehensten Lüneburger Bürger glaubte einen Weg gefunden zu haben. Gerade hatte er sein Lebenswerk vollendet, die „Geschichte der Stadt Lüneburg“, in dem Professor Dr. Wilhelm Reinecke eine Lanze
für seine jüdischen Mitbürger brechen wollte, mit den Mitteln
des Geistes und der List. Denn wenn etwas half, so wusste er,
konnte der Geist es nicht allein schaffen.

Nach dem Vorbild Marc Antons in Shakespeares Drama „Julius Cäsar“ ging Reinecke zu Werke, nicht in einer mitreißenden Rede wie dort, sondern in einem beschliffenen „Schlussgedanken“, wie dieses letzte Kapitel in seinem Buch heißt.

Man schrieb das Jahr 1933, noch glaubten viele, dass sich der braune „Übermut“ jetzt legen müsse, jetzt, wo doch das Ziel Hitlers, Macht zu erlangen, erreicht war. Man wartete auf Mäßigung. Und so wagte Reinecke in seinen „Schlussgedanken“ einen Drahtseilakt: Er lobte die neue, frische Bewegung, die dem geliebten Vaterlande nach den Jahren der Erniedrigung durch das Versailler Diktat endlich die Freiheit und den Stolz zurückgeben würde. Er lobte die braune Bewegung und ihren Führer mit honigsüßen Wendungen, um dann fast versteckt auf sein eigentliches Ziel zu sprechen zu kommen: Eine anständige, vernünftige Behandlung der Lüneburger Juden.

Wörtlich heißt es in der Stadtgeschichte: „Wenn der Verfasser sich nicht völlig täuscht, so wünscht ein sehr starker Prozentsatz der Lüneburger Bürger- und Einwohnerschaft, in
seiner begeisterten Anteilnahme an der Wiedergeburt unseres Volkes, seiner bedingungslosen Bereitschaft, unserem Führer am heutigen 12. November in altgermanischer Treue Gefolgschaft bis in den Tod zu geloben, nun erst recht, dass der Schild des dritten Reiches auch im angedeuteten Sinne völlig makellos erhalten werde!“

Und weiter: „Nicht umsonst zeigt die gen Sonnenaufgang gerichtete Schauseite unseres Rathauses als Mittelfi gur eine Justitia; und schon Albert Krantz, der erste große wissenschaftliche Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber Deutschlands, kommt zu der Erkenntnis: „Die Grundlage der Blüte der Hansestädte wie aller Gemeinwesen ist die Gerechtigkeit!“

Nach so viel „Honig“ für die Staatsmacht kommt Reinecke zu seinem Anliegen: „Juden oder gar Christen von halb oder ganz vergessener jüdischer Abkunft, die im Donner der Schlachten gekämpft, die in fremden Ländern als treue Deutsche für Deutschland verfolgt und oft genug wirtschaftlich zu Grunde gerichtet worden sind, sollten nicht des ungeschmälerten deutschen Heimatrechtes beraubt werden! Sie müssten, selbstverständlich mit Kindern und Kindeskindern, für alle Zeiten ebenbürtige deutsche Volksgenossen heißen. Dasselbe hätte zu gelten für die Nachkommen solcher Juden, die, im Innersten dem Deutschtum gewonnen, für deutsche Wissenschaft und Kunst Unsterbliches geschaffen haben.

Erinnert sei nur an zwei Lehrer unserer Landesuniversität, den Anatomen Jacob Henle, bei all seinen Schülern in unauslöschlicher Verehrung, und Ferdinand Frensdorff, den als Nestor der deutschen Hochschullehrer unlängst entschlafenen deutschen Rechtshistoriker. Wollen wir nicht das Andenken des frommen geistlichen Liederdichters Spitta gesegnet halten, wo doch ein Teil seines Lebenswerkes im Amtshause zu Lüne entstanden ist? Ist nicht das Frühlingslied eines Felix Mendelssohn-Bartholdy ganz deutsch empfunden? War es nicht derselbe Mendelssohn, der uns Bachs Matthäus-Passion neu geschenkt hat? Sollen uns die Gemälde eines Wilhelm Steinhausen oder des vom hochsinnigen deutschen Erzieher Alfred Lichtwark so wertgeschätzten Max Liebermann nichts mehr bedeuten?“ Ja, dieser Versuch Reineckes war geistreich wie geschickt und mutig.

Ob er mit einem Erfolg gerechnet hatte? Vielleicht. Denn er wusste noch nicht, was heute Allgemeinwissen ist: Dass nämlich Ideologen mit Vernunft nicht beizukommen ist. Es kam nicht einmal zum Druck dieser Schlussgedanken. Die Partei las mit und kassierte die Passagen, auf die es dem Professor besonders angekommen war. Um den Bestand des Buches zu sichern, musste Reinecke sie ideologisch-logisch „verbessern“ – die Jubelpassagen mussten selbstverständlich stehen bleiben.