Der Bajan Virtuose
geschrieben von André Pluskwa im April 2011ZU BESUCH BEI MICHAEL REINHARDT

Ein windig-frostiger Tag in Kaltenmoor. Der
Frühling, er scheint nicht so recht Einzug
halten zu wollen in diesem Jahr. Die Menschen,
blass vom Winter, warten auf die Sonne,
die die Glücksgefühle aufkeimen lässt wie Krokusse.
Zartgrüne Stecklinge sprießen auf dem
Fensterbrett in der Wohnung von Michael Reinhardt,
gebürtiger Deutsch-Russe, dessen Eltern,
mehrfach entwurzelt, wie so viele ihrer Herkunft
wahre Odysseen über den Kontinent unternahmen.
1955, in seinem Geburtsjahr, fristeten sie ein karges
Dasein am Rande der Sowjetunion — in den
kalten Winden Sibiriens — wo jedes weiteres Minusgrad
körperlich spürbar wird. „Minus 40 Grad,
das waren wir gewohnt“, sagt Reinhardt und erzählt,
wie es war, als er damals im Alter von vier
Jahren das erste Mal ein Akkordeon in der Hand
hielt. Der Vater kam gerade von der Arbeit nach
Hause und wähnte den großen Bruder des kleinen
Michaels am Instrument. Als die Mutter ihn aufklärte,
dass es Michael sei, war der Vater baff, hatte
sein Sohn doch nie auch nur eine einzige Übungsstunde
genossen. „Mich durchströmte ein warmes
Glück, als ich zu spielen begann. Ich hatte etwas
gefunden, das mein Leben prägen sollte.“
Im Alter von sechs besuchte er eine Musikschule
neben der üblichen Grundschule, sog alles auf,
was mit Musik zu tun hatte. Später sollte er, für
einen Deutschrussen absolut ungewöhnlich, die
dafür nötigen Empfehlungen erhalten, um auf eine
internatsähnliche Mittelschule, 120 km von seinem
Heimatdorf entfernt, wechseln zu können, die es
ihm ermöglichte, seine Fähigkeiten zu vertiefen.
Inzwischen war er zum Bajan übergewechselt, das
es ihm erlaubte, die Grenzen, die ein normales
Akkordeon steckt, hinter sich zu lassen.

„Mit einem Bajan kann man beispielsweise Halbtonschritte spielen, was einem ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Schnell erweiterte ich mein Spektrum von Volksweisen auf klassische Musik. Wer in der UdSSR auf dem Bajan musikalisch gefördert wurde, musste Bach spielen. Alle spielen Bach, man muss diese Polyphonie beherrschen. Ich lernte Notendiktate, Theorie, Gesang – die Ausbildung war intensiv, und ich bekam eine Empfehlung für die Hochschule. Nun war ich in Novosibirsk, lernte bei den Besten der Besten. Mein Leben drehte sich nur noch um Musik und Wettbewerbe, von denen ich die entscheidenden gewann. Ich nahm in der damaligen DDR, nachdem ich die Vorentscheidungen gewonnen hatte, an einem internationalen Wettbewerb teil, auch diesen bestritt ich mit Bravour. Das Leben bestand aus Musik und Studentenfeiern, mein Stigma als Russlanddeutscher hatte ich hinter mir gelassen. Ich bekam eine Aspirantur in der höchsten Schule, wurde dort Lehrer, war nun selber Jurymitglied bei Ausscheidungen, bekam meinen Platz in der Ewigkeit – in einem Buch über die besten Bajan-Spieler Russlands. Dieses Instrument hat in meinem Geburtsland eine viel höhere Bedeutung als hierzulande. Ich war nun ein Künstler und Lehrer. Eine Professur war zum Greifen nah. Er erfüllte die dafür nötigen Bedingungen — fast alle. „Man musste Wettbewerbe gewonnen und mindestens einen Schüler erfolgreich ausgebildet haben. Außerdem sollte man eine Schallplatte vorweisen können. Ich fl og auf eigene Kosten, die einen halben Monatslohn betrugen, nach St. Petersburg, damals noch Leningrad; dort wurde mir von der staatlichen Kulturbehörde eine sehr knapp bemessene Studiozeit zugeteilt. Ein Jahr später sprach mich ein Student an, ob ich schon meine Platte erhalten hätte. Ich fragte ihn aufgeregt, wo er sie gesehen hätte — 20 Exemplare waren an dei örtlichen Plattenläden ausgeliefert worden. Als ich dort ankam, waren sie ausverkauft. Die vierte Bedingung erfüllte Reinhardt nicht. Er war kein Mitglied der Partei und wollte es auch niemals werden. Die Professur war für ihn damit unmöglich geworden. „Jahre später sollte ich in Deutschland an einen Musikkatalog gelangen, der meine Platte als CD anbot. Ich rief dort an und man sagte mir, dass sie die Rechte von der russischen Kulturbehörde erworben hatten. Das war nach der Perestroika. So macht man in Russland Geschäfte! Ich kaufte eine CD mit meiner Musik und musste 38 Deutschmark bezahlen.“ Von daher mag es wie eine ausgleichende Gerechtigkeit erscheinen, dass Jahre später das ZDF an ihn herantrat. Er wurde für eine Fernsehshow gebucht und sollte den Hummelflug spielen. „Der Hummelflug, das ist eine Art Wettbewerb unter den Musikern. Wie schnell kann ich ihn fehlerfrei spielen? Schaffe ich es unter einer Minute? Der Musiker beginnt, und schwupp, alle schauen auf die Uhr – es ist etwas bizarr und hat wenig mit Musikgenuss zu tun.“ Nur einen Monat später sollte er einen vierstelligen Betrag auf seinem Konto fi nden. Noch heute witzelt die Familie über seine „goldene Minute“, in der er mit einem Playback, einer Quasipantomime, so viel Geld verdiente wie andere im ganzen Jahr nicht.
MICHAEL REINHARDT BEKAM EINE ASPIRANTUR IN DER HÖCHSTEN SCHULE, WURDE DORT LEHRER UND JURYMITGLIED.
1992 emigrierten Reinhardt und seine Mutter
nach Deutschland, dem eigentlichen Heimatland
seiner Eltern. Der erste Job war der des Kaffee-
Ausschenkers im Salzmuseum. Reinhardt eignete
sich die deutsche Sprache an, knüpfte Kontakte,
schlug Wurzeln. Es folgte ein klassisches Musikerleben.
Mit seiner Band, den Amourkosaken,
tourte er von 1995 bis 2005, 100 Auftritte pro Jahr
waren keine Seltenheit. „Wir spielten oft Bädertouren
— Bad Kissingen, Bad Salzuflen und so
weiter — oft vor 500 Leuten: Es war eine schöne
Zeit. Mit Wulf Wiedecke, einem Arzt aus Geesthacht,
der die russische Musik liebte, spielte ich
Volksweisen und mehr, wir nahmen CDs auf.
Heute spiele ich weniger live — es gibt immer wieder
Buchungen als Solist — oder Duette mit befreundeten
Künstlern aus all den Jahren.
Wie in anderen Disziplinen auch, muss man
üben, jeden Tag seines Lebens. Ich spiele vier
Stunden täglich, übertrage auch Partituren auf das Bajan. Beethoven ist fast unmöglich, Bach
funktioniert immer. Man muss den Charakter des
Stückes wahren, das ist die eigentliche Herausforderung.“
Als Lehrer hat man es mitunter nicht einfach. Das
Bajan ist ein schwieriges Instrument. „Man sieht
nicht, was die linke Hand macht. Dies zu üben ist
ein langwieriger Prozess und erfordert Geduld, das
haben die Kinder nicht. Nie werde ich den kleinen
Jungen vergessen, den seine Oma angemeldet hatte.
Ich erklärte es ihm, er drückte die Tasten, es
kam kein Ton. Ich sagte, er hätte vergessen den
Balg zu ziehen. Wütend sah er mich an: ,Ich soll
auch noch den verdammten Balg ziehen? Vergiss
es!‘ Seit drei Jahren spielt er Keyboard. Das Bajan
hat er nie wieder angerührt.“
Heute lebt Reinhardt mit seiner Frau – seiner
Kinder liebe aus dem Örtchen, in dem er geboren
wurde – ein beschauliches Leben, seine Mutter
wohnt gleich nebenan. Ein Häuschen suchen sie,
in dem sie zu dritt leben können. Das wäre ein
Glück, so wie ein gelungener Auftritt noch immer
ein großes Glück ist. Ansonsten kümmern er und
seine Frau sich um den Garten, im Sommer spielt
er draußen. Bevor ich gehe, erzähle ich ihm, dass
ich, wann immer ich Ruhe brauche, auf Walzer zurückgreife;
sie erinnern mich an die Zeit bei meiner
Großmutter. Sein Gesicht hellt auf und er
spielt Chopin. Michael Reinhardt und das Bajan
verschmelzen, seine Mimik ist von tiefster Zufriedenheit
und Konzentration erfüllt, und ich, der ich
eigentlich nicht so nah am Wasser gebaut bin, bin
von der Schönheit und Emotionalität überwältigt.
Als ich mich verabschiede, kann ich nicht anders:
Ich bedanke mich dafür, dass es mir gestattet wurde,
Einblick in sein Leben und sein Spiel nehmen
zu dürfen. Noch nie habe ich dies so aufrichtig gemeint
wie in dieser Minute. (ap)
Michael Reinhardt
www.bajan-spezial.de
FOTOS: ENNO FRIEDRICH und Privatarchiv M.REINHARDT
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