Die Historiensammlerin
geschrieben von Natascha Mester im Juni 2011EINE FRAU, DIE LÜNEBURGS KLEIDSAME VERGANGENHEIT SICHTBAR UND ERLEBBAR MACHT: ROTRAUT KAHLE
Mitunter kommt es vor, dass man auf Menschen
trifft, deren Leben ein so reiches
ist, dass es schwer fällt, seinen Text auf
eine einzige Facette zu reduzieren. Rotraut Kahle
beispielsweise ist, wenn man so will, ein regelrechter
„Hans-Dampf“ in Lüneburgs Gassen: im
Vorstand der Heinz Friedrich Meyer-Stiftung zur
Förderung der Webkunst im Kloster Lüne, Mitglied
im Kirchenvorstand von St. Michaelis, erste Vorsitzende
im Verein Lüneburger Stadtarchäologie e.V.,
Gründungspräsidentin der Lüneburger Soroptimist
international und Expertin für historische Kostüme
– ihnen gehört eine ihrer großen Leidenschaften.

SIE WAR DIEJENIGE, DIE EINST DEN PROTOTYPEN DER RENAISSANCE-GEWÄNDER FÜR UNSERE STADTFÜHRERINNEN UND -FÜHRER ENTWARF.
Ein Vortrag über Renaissancebekleidung war 1983
das Debüt der gebürtigen Ostfriesin in ihrer neuen
Heimat Lüneburg. Von da an saß sie jede Woche
mit mehreren Frauen beim Nähen beisammen und
schuf bis 2003 einen Fundus von immensem Wert
und Umfang, der heute im Speicher Am Ifl ock bewahrt
wird. Wenig später folgte eine Anfrage von
der Stadt, ob sie die Stadtführerinnen und -führer
nicht mit Gewändern aus der Zeit der Renaissance
ausstatten wolle. Sie wollte, entwarf und nähte die
Prototypen. Was für Rotraut Kahle beim Nähen
ihrer Kostüme den höchsten Stellenwert einnimmt,
ist die Dokumentation einer längst vergangenen
Ära, die originalgetreue, die authentische
Nachbildung. Nicht immer beweisen die
nachfolgenden Verantwortlichen ein ebenso großes Interesse daran. Traurig sei sie daher darüber,
dass man heute mehr nach ästhetischen denn
nach authentischen Gesichtspunkten entwerfe
und so dann immer öfter eine barocke Rüsche an
einem Renaissanceärmel lande.
FÜR DEN HANSETAG FERTIGT SIE KOSTÜME IM SPÄTGOTISCHEN STIL; IM SEPTEMBER SIND UNSERE STADTVÄTER BEI IHR ZUM MASSNEHMEN GELADEN.
Woraus dieses Faible, diese Begeisterung für die
Bekleidung vergangener Epochen erwachsen ist?
Frau Kahle hebt bescheiden lächelnd die Schultern.
Schon als Kind zeichnete sie Figurinen aus illustrierten
Kostümbüchern ab, bekam mit sechs ihren
ersten kindgerechten Webrahmen geschenkt (der
sich übrigens – ganz Sammlerin – auch heute noch
in ihrem Besitz befi ndet), mit neun dann eine kleine
Nähmaschine, auf der sie mit Hingabe Kleider für
ihre Puppen herstellte, und im frühen Teenageralter
von zwölf Jahren war es die erste Bluse, der
sie noch an Mutters rustikaler Tretmaschine ihre
Form gab. Vielleicht war diese frühe Prägung ausschlaggebend,
die sie dazu brachte, in den 60er
Jahren ein Lehramtstudium in den Fächern Textiles
Gestalten und Sport zu beginnen. Eine Dozentin
fragte damals, wer Lust hätte, im Historischen Museum
in Hannover bei der Restaurierung alter Kostüme
mitzuhelfen. „Da hatte ich natürlich sofort den
Finger oben“, erinnert sich die engagierte Wahllüneburgerin.
„Seither arbeitete ich in jeden Semesterferien
dort in der Abteilung „Bekleidung und Mode“
und eignete mir ein immenses Wissen an.“ Das
Interesse war nicht nur geweckt, sie begann für
dieses Thema regelrecht zu brennen. Auch später,
während ihrer gesamten Zeit im Schulbetrieb, besuchte
sie mit ihren Schülern oft das Museum.
Seit sie in Lüneburg lebt, entwirft und näht sie zu
vielen Anlässen Kostüme nach alten Vorlagen, so
auch 1997 für die Veranstaltung „750 Jahre Stadtrecht“,
oder etwa für Curt Pomp, den sie mit viel
Liebe zum Detail „biedermeierlich“ für seine historischen
Kutschfahrten ausstattete. Bei den Hansetagen
in Lüneburgs Partnerstadt Tartu im Jahr
2005 hatte sie dann den zündenden Gedanken:
„Alle Offi ziellen waren in einheitliche, historische
Kleidung gewandet. Das sah wunderschön aus.“ Als
sie erfuhr, dass 2012 die Hansetage nach Lüneburg
kämen, stand für sie fest: Auch unsere Stadt soll
sich in historischem Gewand präsentieren. Seit vier
Jahren laufen die Recherchen und die Umsetzung
für die Kostüme im spätgotischen Stil; im September
sind unsere Stadtväter bei ihr geschlossen zum
Maßnehmen geladen. Im Nähzimmer ihres Hauses
steht bereits die Figurine, die eine so genannte
Schaube, den Repräsentationsmantel, in einem tiefen
Rot für Oberbürgermeister Mädge trägt. Die Vorlage
fand sie übrigens auf einer Bildtafel in der St.
Johanniskirche. Ein Mann seines Standes, so weiß
Rotraut Kahle, hatte damals lediglich den Kragen
und die Ärmelaufschläge mit Samt ausgeputzt.
Wenn also heute bei den traditionellen Lüneburger
Festtagen ein Sülfmeister von Kopf bis Fuß in Samt
gewandet sei, so klärt die Expertin auf, dann ist das
schlichtweg falsch.
Das heutige Modediktat ist übrigens keine Erfi ndung
des 20. Jahrhunderts; seit Menschengedenken
ist die Garderobe vor allem ein Unterscheidungsmerkmal
für den gesellschaftlichen Stand. Je vermögender
der Auftraggeber war, desto mehr Material
konnte er sich leisten, desto üppiger waren Faltenwurf
und Ärmelumfang, desto länger auch das
Gewand; ein einfacher Bauer trug lediglich einen
schmucklosen Kittel. Wie viele Ellen Samt für ein
Kleidungsstück verwendet werden durfte, wie viel
Pelz oder Spitze, unterlag tatsächlich strengen
Richtlinien. Auch spielte die Farbgebung eine nicht
unbedeutende Rolle: Rot war beispielsweise die
Farbe der Macht, den teuersten Rotton gewinnt
man auch heute noch aus der Cochenille-Laus.
Sich auch in der Auswahl der Materialien an die
alten Zeiten anzunähern, versteht sich für die Expertin
von selbst. Nicht immer gelingt es, einen
entsprechenden Stoff ausfindig zu machen, doch
kooperieren mittlerweile die regionalen Fachgeschäfte
und rufen an, sobald ein Ballen eingetroffen
ist, der für die Kostümschneiderin relevant
sein könnte.
Die Frage, ob sie ausschließlich nach Bildvorlagen
arbeite, beantwortet sie folgendermaßen: „Zu einem
großen Teil ja, doch gibt es auch einige Schnittmuster,
die die Engländerin Janet Arnold in den
70er Jahren anfertigte, nachdem sie historische
Originalbekleidung vermessen hatte.“ Dafür sei sie
einst nach Bath gefahren, um diese Schnittmusterhefte
zu erstehen, denn erst durch diese bekomme
man das tatsächliche Gespür für das Nähen historischer
Kleidung.
Frau Kahles immenses Know-how über die Gewandung
der Jahrhunderte, deren Materialien und Herstellung
stammt sicherlich aus ihrem Studium und
einigen zusätzlichen Semestern im Fach „Kostümgeschichte“
– vor allem aber ist es ihre Liebe zu
den gewebten Zeitzeugen, die dazu führte, dass aus
der Autodidaktin eine belesene und renommierte
Kompetenz auf diesem Gebiet wurde. Ihr Wissen
behält sie nicht für sich, sondern freut sich, wenn
sie Lüneburger Vergangenheit sichtbar und erlebbar
machen kann – in der Volkshochschule beispielsweise
oder auch in ihren zahlreichen Projekten, die
sie gemeinsam mit Schulen und Museen umsetzt.
Auszeichnungen hat sie bereits für ihre zum großen
Teil ehrenamtliche Arbeit erhalten, so auch 2004 das
Verdienstkreuz am Bande des Niedersächsischen
Verdienstordens – Symbole als Dank für eine beeindruckende
Leistung, für ihr unermüdliches Tun.
Doch kann man tatsächlich jemandem ausreichend
dafür danken, dass er die Geschichte der eigenen
Heimatstadt konserviert, visualisiert und vor allem
für jeden erlebbar macht? Wohl kaum, und deshalb
möchten auch wir noch einmal sagen: Danke, Frau
Kahle! (nm)
FOTOS: ENNO FRIEDRICH
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