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Die Power-Frau aus der Goseburg

geschrieben von Sebastian Balmaceda im Mai 2019

Gisela Menke sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses in der Goseburgstraße, auf dem Tisch stehen gelbe Tulpen, es gibt frisch aufgebrühten Kaffee. Quadrat-Termin bei einer Frau, die viel für Lüneburg getan hat, die 94 Jahre alt, aber unfassbar fit ist, fröhlich, unterhaltsam, spannend.

m 1. Dezember 1924 wurde Gisela Menke in der Jägerstraße geboren, nach einer kurzen Zwischenstation in Barendorf zog die Familie 1938 in die Goseburg – bis heute das Zuhause der alten Dame.
Mit 15 Jahren begann die Tochter des Eisenformers Wilhelm Menke und der Hausfrau Emma Menke eine Ausbildung zur Industriekauffrau bei der Magarine- und Öl-Fabrik Kausch & Co. Die Währungs­reform trieb das Unternehmen 1948 in die Pleite, ­Gisela Menke wechselte als Redaktionssekretärin zur LZ. „Für mich war das immer klar, dass ich ar­beite“, sagt die 94-Jährige, dabei war das damals keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil. „Aber“, sagt Gisela Menke, „ich bin von meinen Eltern zur Selbstständigkeit erzogen worden.“
Von der LZ ging die spätere SPD-Ratsfrau in die kaufmännische Abteilung der von Stern’schen Druckerei. Sie erinnert sich: „Erich von Stern hat mich immer gelobt; als ich aber eine Gehaltserhöhung haben wollte, hieß es: ‚Abgelehnt!‘.“ Der Prokurist hatte sein Veto eingelegt, Männer wurden einfach besser bezahlt. Gisela Menke kündigte den Job. „Es war eine spontane Entscheidung, ich hatte keine neue Anstellung, aber ich wollte mir das nicht gefallen lassen“, erinnert sie sich.
Dass eine Frau 1960 – also vor fast 60 Jahren – einen sicheren Arbeitsplatz aufkündigt, weil sie sich un­gerecht behandelt fühlt, scheint in der Rückschau unglaublich. Aber Gisela Menke hatte immer ein Kämpferherz.
Schnell fand sie – mittlerweile längst mit ihrem Gerhard verheiratet – als Vorstandsekretärin bei der Sperrholzfabrik Ibus eine neue Anstellung. Das Paar zog 1965 für acht Jahre nach Kirn an der Nahe, leitete ein Möbelgeschäft. 1973 starb Gisela Menkes Mutter, sie zog wieder in die Goseburg, kümmerte sich um ihren Vater und Tochter Kerstin, arbeitete erst als Aushilfe, später Vollzeit beim Arbeitsamt.
Vielleicht waren es diese Jahre, die Gisela Menke politisiert haben, obwohl sie in keiner Partei war. Zum einen vergiftete das Ibus-Werk mit dem Abfall billiger Pressplatten die Luft, viele Menschen in der Goseburg wurden krank, die Krebs-Rate explodierte. Zum anderen verstopften immer mehr Lkw die ­Straßen des Stadtteils. „Ich war bis dahin völlig unpolitisch“, erinnert sich Gisela Menke. Doch jetzt wurde sie wütend, rief die „Notgemeinschaft Goseburg“ ins Leben, eine Bürgerinitiative, als es den Begriff Bürgerinitiative noch gar nicht richtig gab.
Im Volksmund war immer vom „Industriegebiet Goseburg“ die Rede, dabei lebten und leben dort und auf dem angrenzenden Zeltberg etwa 3.000 Menschen.

in Aktenordner voller Briefwechsel mit Behörden zeugt vom Widerstand der Goseburger Kämpferin, die ihren Stadtteil lebenswerter gestalten wollte. Das ist Gisela Menke gelungen, weil sie sich 1991 sagte: Rat statt Rente.
Für die SPD zog die streitbare Frau in den Stadtrat ein, blieb zehn Jahre. „Frau Goseburg“ hat für das Jugendzentrum gestritten, für den Kindergarten Regenbogen, für den Treidelweg, für den Bürgertreff in einer ehemaligen Scheune, sie hat gegen den Lkw-Verkehr gekämpft, gegen das Vernachlässigen ihres Quartiers.
Stolz oder Selbstzufriedenheit passen nicht zu Gisela Menke. Sie blickt eher etwas sorgenvoll in die Zukunft. Werden die Kinder der Goseburg noch einen Platz zum Bolzen haben, wenn der LSK den Sportplatz übernommen hat? Was passiert, wenn die Stadt tatsächlich eine Brücke zur Anbindung der City an die Arena baut? Sie ärgert sich über den hässlichen Coca-Cola-Turm, die vielen Wellblech-Hallen.
„Ich wünsche mir, dass die Goseburg wieder als lebenswerter Stadtteil angesehen wird“, sagt Gisela Menke. Sie hat fürwahr alles für dieses Ziel gegeben. Jetzt müssen andere ran.
Welchen Wunsch hat Gisela Menke für sich persönlich? Wollen Sie 100 werden? „Nein, nein, nein, das will ich keinem antun. Ich möchte noch ein bisschen so weiterleben wie jetzt. Das wäre schön.“
Quadrat wünscht weiterhin Gesundheit und einen so wachen Geist.
Fotos: Enno Friedrich

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