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Lüneburgs Eulenspiegel

geschrieben von Hajo Boldt im Februar 2013

Vor 300 Jahren lebte in Lüneburg der angesehene Arzt Dr. Ebeling, der für seine unzähligen Streiche in jungen Jahren bekannt wurde (Teil 1)

Vor 300 Jahren lebte in Lüneburg der angesehene Arzt Dr. Ebeling, der Sohn des Stadt­­superintendenten. Er verübte in jungen Jahren zahlreiche lustige Streiche, aber auch solche, die mitunter bei seinen Zeitgenossen zu ordentlichem Verdruss führten. So wurde Ebeling zum „Lüneburger Eulenspiegel“.
Im Nachlass des 1911 verstorbenen Gymnasial­direktors des Johanneums und Geheimrats Dr. Rudolf Haage, geboren 1836, fanden sich einige der Eulenspiegeleien wieder, die dieser seinerzeit dokumentierte hatte. Dr. Haage berichtete von ihnen, wie sie ihm als Kind erzählt wurden, wenn sie auch „lögenhaft to vertelln“ waren. Aber „wohr sünd se doch, sonst künn man se ja nich vertelln“, setzten die Erzähler vorsichtig hinzu.

Die Katze als Luftschiffer

Das Problem des Fliegens beschäftigte schon im 17. und 18. Jahrhundert die Welt, so natürlich auch die Schüler des Johanneums und besonders den Tertianer Ebeling. Nun war der Schneider von Ulm bei seinem Versuch, mit großen, an seinen Armen befestigten Flügeln zu fliegen, von der hohen Leiter in die Donau gestürzt und beinahe ertrunken. Ebeling wollte vorsichtiger sein und setzte deshalb lediglich das Leben einer Katze aufs Spiel. Er hatte sich große Blasen verschafft und diese mit Gas gefüllt. Hernach bemächtigte er sich der jungen, schlecht ernährten Katze eines Nachbarn und band ihr unter den Kopf, den Leib, an die Beine und den Schwanz seine Blasen und verschnürte sie. Dann begab er sich abends bei Mond­schein mit dem armen Tier nach dem Bäckerhause oben am Sande, schlich die Treppen bis zum höchsten Boden hinauf und warf aus der obersten Luke die Katze hinaus. Diese nahm auch sofort die richtige Haltung ein, da Katzen ja bekanntlich immer auf ihre Beine fallen. Nun wirkte die „leichte Luft“, das Gas in den Blasen. Da windstilles Wetter herrschte, schwebte die Katze über dem Sande.
Doch offensichtlich schmerzten sie die Schnüre, auch Hunger und Durst quälte sie und sie begann jämmerlich zu miauen. Das Klagen der Katze störte aber die Schläfer, und man wusste sich das Gewimmer in der Höhe gar nicht zu erklären. In der Dunkelheit kam man auf die abenteuerlichsten Vermutungen und dachte an Zauberei, bis der Tag kam und das merkwürdige Luftschiff erkannt wurde. Da man dem Tier nicht beikommen konnte, wandten die Bürger sich an die Polizei. Der Polizei­senator trug die Sache im Rate vor. Die Väter der Stadt beschlossen, das Schützenkorps zu Hilfe zu rufen. Diese schossen aus den höchsten Fenstern und Luken, einige legten sich auch auf den Rücken und schossen in die Luft, bis einer das Glück hatte, die Blasen zu treffen. Da stürzte das Tier herunter und war tot. Die ganze Freveltat kam zu Tage. Und wenn man auch seine Vermutungen hatte, so konnte doch dem Tertianer Ebeling nichts nachgewiesen werden und er blieb straffrei.

Die Klopfer

Zwischen den Anwohnern des Sandes und dem verdächtigen Sohn des Superintendenten entwickelte sich nun ein förmlicher Krieg. Sie lauerten ihm auf. Er aber wollte ihnen einen besonderen Schabernack antun und benutzte dazu die Klopfer von blankem Messing, die an den Haustüren angebracht waren. Diese machten — wenn man sie in die Höhe zog und auf den darunter befindlichen dicken Knopf fallen ließ — einen mörderischen Lärm, der alle Bewohner aufweckte. Besonders benutzte der Nachtwächter die Klopfer, wenn die große Wäsche anstand, mit der die Wasch- und Hausfrauen um sage und schreibe drei Uhr in der Früh begannen.
Ebeling nahm eine Rolle Faden und ging eines Abends, als alles schlief, auf den Sand. Er band Bindfäden an die Klopfer der Häuser, in denen seine besonderen Widersacher wohnten, nahm die Enden in die Hand und legte sich hinter einen Brunnen, der in Sandmitte war. Er fing an dem Bindfaden an zu ziehen und setzte damit den Klöppel in Bewegung. Bald öffnete sich oben ein Fenster, eine Nachtmütze lugte heraus und fragte, was da los wäre. Als niemand zu sehen war, wurde das Fens­ter ärgerlich wieder zu geschlagen. Dann zog Ebeling an einem anderen Bindfaden und an einem dritten und freute sich diebisch, als die anderen Fenster sich öffneten und die Hausbewohner über die Ruhestörung schimpften. Dann zog Ebeling alle Bindfäden zugleich, sodass sich bald ein solcher Lärm erhob, dass er es für geraten hielt zu flüchten. Denn schon kamen die Nachtwächter gelaufen. Ebeling aber entkam, der Verdacht blieb dennoch an ihm hängen, weil man gesehen hatte, dass er einige Tage zuvor Bindfäden gekauft hatte.
Einer der Bürger aber, der in einer der Kellerwohnungen an der Südseite des Sandes wohnte, lauerte dem Tertianer auf. Als Ebeling eines Abends vorbei lief und mit einem Stock an den Läden entlang strich, so dass alles klapperte, griff er plötzlich heraus, packte den Übeltäter am Bein und zog ihn durch die niedrige Tür in den Keller hinunter. Ohne auf die Ehre des Tertianers Rücksicht zu nehmen, bläute er ihn mit seinem eigenen Stock kräftig durch.

Die Rache

Ebeling, tief gekränkt, sann auf eine empfindliche Rache. Von einem befreundeten Schlachter verschaffte er sich einen viele Fuß langen Darm. Tief in der Nacht sprang er aus dem Fenster seiner Schlafkammer, kletterte über die Gartenmauer und gelangte auf den Sand. Hier steckte er das Ende des Darms durch eine Ritze unter der Tür der Kellerwohnung, in der sein „Feind“ hauste. Das andere Ende band er an den Hahn des nächsten Brunnens, der fließendes Wasser hatte und ließ dem Unheil seinen Lauf. Am anderen Morgen sah der Kellerbewohner, dass das Wasser den ganzen Boden seiner Wohnung fußhoch bedeckte. Ehe die Siele gebaut und die Abflussrohre gelegt waren, pflegte es bei anhaltendem Regenwetter zu geschehen, dass in den Kellern unten am Sande Wasser aus dem Boden drang und die Bewohner zwang, es mühevoll auszuschöpfen. Der Kellerbewohner konnte sich nun nur zu gut denken, wer der Übeltäter war. Er fürchtete sich aber, ihn anzuzeigen, weil es dann herausgekommen wäre, dass er den Sohn des Superintendenten geprügelt hatte. Und so ging es wie gewöhnlich, dass Ebeling ohne Strafe davon kam und er die Lacher auf seiner Seite hatte.

Das Habichtnest

Der hohe Johannisturm hatte lange für die Knaben eine besondere Anziehung, obwohl im 19. Jahrhundert ein Schüler des Johanneums in ihm sein Leben einbüßte. Es wurde in der Kirche gebaut. Ein Schüler, Sohn eines vornehmen Offiziers, kletterte in der Pause die Treppen hinauf und stöberte auf einem der höchsten Böden umher. In den Fuß böden waren Luken untereinander angebracht, um dadurch von unten Baumaterial herauf zu winden. Er geriet in die Öffnung der höchsten Luken und lag wenig später zerschmettert unten. Da er nicht in die Unterrichtsstunde gekommen war, wurde nach ihm gesucht, bis man zum allgemeinen Schrecken die Leiche fand.
Auf dem Johannisturm war denn auch unser Ebeling zu Hause, da ihm als Sohn des Superinten­denten der Küster immer die Tür öffnete. Nun hatte er das Nest eines Habichts entdeckt — in alten Zeiten nis­teten immer Turmfalken am Johannis­turm – und wollte sich für seine Sammlung die Eier holen. Ein Kamerad sollte ihm dabei helfen. Es war aber sehr schwierig, an das Nest heran zu kommen. Zuletzt schoben sie aus einer Luke ein Brett hinaus. Der Kamerad musste inwendig das Brett halten und Ebeling als der Verwegenste kletterte hinaus. Er stellte sich auf das Brett und konnte nun in das Nest hineinsehen. Der Kamerad fragte: „Wie viel Eier sind drin?“ Ebeling zählte fünf. Da sagte der andere: „Dann kriege ich drei!“ „Nein“, antwortete Ebeling, „ich kriege drei, Du zwei.“ „Dann lasse ich das Brett los“, sagte der Kamerad und hielt es nur noch mit einer Hand. Ebeling aber erklärte tapfer: „ Die drei kriege ich!“ Dabei nahm er die fünf Eier aus dem Nest, tat sie in seine Mütze und kletterte, während die Habichte schon heran flogen, ruhig wieder in den Turm und gab dem Kameraden wie versprochen zwei Eier.

Vor der Turmluke

Eines Tages war er im Turm hinaufgestiegen und befand sich in dem Raum, in welchem die großen Glocken hängen, als das Geläut wegen einer Be­erdigung einsetzte, dass ihm die Ohren weh taten. Schnell trat er durch eine halbgeöffnete große Luke auf den Rand der Mauer, so dass der Schall sich etwas brach. Schwindel kannte Ebeling nicht. So stand er ganz ruhig und sah, wie er es so gerne tat, auf das Getriebe der Menschen hinunter, die da auf dem Sande wie Ameisen umher krabbelten. Jetzt war aber das Läuten vorbei und einer der Glockenläuter, der Ebeling gar nicht bemerkt hatte, schlug von innen die Luke zu und schob den Riegel vor. Das Rufen half Ebeling nichts mehr, die Leute waren schon auf der Treppe, die nach unten führte und er stand allein auf dem schmalen Rande. Bald wurde ihm das Stehen beschwerlich. Er setzte sich nieder und ließ die Beine über die Mauer hinab baumeln. Jetzt wusste er auch, welchen Spaß er sich machen wollte. Um diese Zeit musste sein Vater von einem Ausgange heimkommen. Und richtig, bald sah er den Stadtsuperintendenten in würdiger Haltung den Sand herunter kommen und nach den Pfarrwohnungen einbiegen. Schon griff der würdige Herr nach dem Griff seiner Tür, als sein Sohn plötzlich von oben mit lauter Stimme „Papa, Papa!“ herunter rief. Erschreckt durch die vom Himmel herunterkommende bekannte Stimme, sah der Vater umher. Schließlich blickte er hinauf und bemerkte seinen Sohn oben in der schwindeligen Höhe vor der Turmluke sitzen. Da wurde ihm selbst schwindelig, so dass er sich am Türdrücker halten musste. Jeden Augenblick glaubte er, würde sein Sohn stürzen und zerschmettert zu seinen Füßen liegen. Doch behielt er so viel Geistesgegenwart, dass er Vorbeigehenden zurief, sie möchten den unten wohnenden Türmer benachrichtigen, dass er seinen Sohn aus der gefährlichen Lage befreite. Viele Leute hatten sich unten am Sande versammelt und sahen nun, wie endlich die Luke von innen geöffnet und der Knabe hineingezogen wurde. Der Vater freute sich, als der Sohn heil wieder unten war und vergaß, ihn zu bestrafen.

Anmerkung von Hajo Boldt

Versucht man die Lüneburger Eulenspiegeleien genau zu datieren oder an einer Person zu fixieren, ist man nach dem „Möllner“ Eulenspiegel im 14. Jahrhundert bei dem Namensträger „Ebeling“ in Lüneburg schon im 15. Jahrhundert angekommen. In der Kirchengeschichte (Pastorenverzeichnis) stößt man bei den „Eulenspiegel“-Vätern auf mindestens zwei Personen:
Peter Ebeling, geboren in Lüneburg und gestorben am 25.05.1624. Er war von 1611 bis 1624 Super­intendent an St. Johannis und verheiratet mit Ursula Godemann.
Johann Justus Ebeling, gestorben in Lüneburg am 2.3.1783, war Pastor an der St. ­An­­dreaskirche in Hildesheim von 1749 bis 1753, dann Superinten­dent an St. Johannis von 1753 bis 1783.
Während bei erstgenanntem Superintendent „Ebeling“ die vom 1911 verstorbenen Geheimrat Haage im Nachlass nicht ganz genau festzulegende Jahres­zahl „vor 200 Jahren“ eher zutrifft, passt zu letztgenanntem besser der fliegende Schneider von Ulm. Noch schwieriger wird es, den Eulenspiegel selbst als Arzt in Lüneburg zu ermitteln. Vielleicht erkennt ihn ja der eine oder andere Leser als einen seiner Vorfahren oder in sich selbst wieder. Vielleicht ist es aber auch besser, den Lüneburger Eulenspiegel in seinem Verhalten ohne Fakten und mit seinen Geschichten so zu belassen, wie er war — oder nicht war.

Foto: Hajo Boldt