Allerlei von der Gans
geschrieben von Rüdiger Albert im November 2011VON FESTTAGSBRATEN, DAUNENLIEFERANTEN UND BÜSSERNATUREN

Einer von Deutschlands berühmten Feinschmeckern
hat ihr einen unendlichen Kampf
angesagt: Für Wolfram Siebeck war, ist und
bleibt die Gans „schwerste Teutonenkost“. Ihm ist
insofern zuzustimmen, als dass sie vor allem im
Norden und im Osten Deutschlands lange Zeit eine
wichtige Rolle als Fettlieferant spielte. Gänseschmalz,
auch „schlesischer Kaviar“ genannt, gibt
vielen Kohlgerichten erst den rechten Geschmack.
In Ostpreußen war der langhalsige Vogel auch deshalb
so beliebt, weil er sich fast vollständig verwerten
lässt – angefangen von den Daunen und
Federn, die als Kissenfüllung dienen, bis hin zu
den abgezogenen Füßen, die sich getrocknet noch
als Staubwedel eignen.
Siebecks Diktum bleibt ungehört – denn das Ende
naht: Für alle etwa 700.000 hierzulande gemästeten
Gänse geht nicht nur ein Jahr, sondern in
diesen Monaten auch das Leben zu Ende.
Gänse, die im Gegensatz zu Hühnern nur im Frühjahr
Eier legen, schlüpfen im Mai und haben im
November mit etwa sechs Kilogramm ihr Höchstgewicht
erreicht, das sich über den Winter auch
mit aufwendiger Fütterung kaum mehr steigern
lässt. Das ist im übrigen der Hauptgrund dafür,
warum Gänsefl eisch zu den ganz wenigen verbliebenen
Saisonartikel unter den Lebensmitteln gehört.
„Wer denn vernünftig ist und kann’s sich leisten,
kauft sich eine Gans“, riet schon Wilhelm
Busch. Denn Weihnachtsgebäck und Nikoläuse offeriert
der Markt schon spätestens im September
und Erdbeeren auch zu Weihnachten.
Frisches Gänsefl eisch gibt es nur in den Monaten
November und Dezember, wenn es den Speisezettel
in den letzten acht Wochen des Jahres als Martinsgans
(November) und Festtagsbraten (Dezember)
bereichert. Nach der Legende werden die Tiere
im Spätherbst nicht nur Opfer ihres biologischen
Wachstumsprozesses – heutige Gänsegenerationen
büßen noch für ihre Vorfahren. Diese haben durch
ihr Geschnatter das Versteck des römischen Soldaten
Martin verraten, in das sich der gottesfürchtige
Ungar gefl üchtet hatte. Er wollte partout nicht
zum Bischof von Tours ernannt werden. Martin —
er lebte von 316 bis 397 — musste nach seiner
Entdeckung sein Amt als Bischof antreten. Und
sein Namensvetter Papst Martin erklärte 300 Jahre
später den 11. November als Martinstag zum Feiertag
für die ganze Christenheit. Als Rache für den
Verrat werden bis heute am Sankt-Martins-Tag
Gänse verspeist. Ein weiterer Höhepunkt des
Gänse verzehrs folgt Weihnachten. Danach warten
die Freunde des Gänsefl eischs wieder ein Jahr –
oder greifen zu gefrorenem Fleisch.
Soll man den steinharten Tiefkühlvogel aus Ungarn
oder Polen wählen? Oder die gute deutsche
Dithmarscher? Oder lieber gleich zum Biobauern fahren? Die Antwort auf diese Fragen ist gar nicht so einfach, legt man
Wert auf einen saftigen Braten mit gutem Geschmack, denn Gans ist nicht
gleich Gans – und vorweg schon mal dies: Die Teuersten sind oft die
Schlechtesten. Wer dann noch den größtenteils unsinnigen Gansrezepten
folgt, wird mit Braten bestraft, die trocken sind wie Staub und zäh wie
Leder. Das trifft insbesondere so genannte „glückliche Gänse“: Eine naturnahe
Aufzucht ist zwar artgerecht, dem späteren Genuss kann das aber
abträglich sein. Je nach Mastmethode erreichen die Tiere ihr Schlachtgewicht
nach neun bis 32 Wochen – Gänse in der Schnellmast haben nach
neun Wochen ein durchschnittliches Schlachtgewicht von 4,5 bis 5,5
Kilo gramm. Tiere aus der Intensivmast wiegen nach etwa 15 Wochen 5,5 bis
6,5 Kilogramm. Am längsten zetern Gänse in der Extensiv- oder Weidenmast.
Erst nach 20 bis 22 Wochen kommen sie mit 6,5 bis 7,5 Kilogramm
unters Hackebeil.
FRISCHES GÄNSEFLEISCH GIBT ES NUR IN DEN MONATEN NOVEMBER UND DEZEMBER, WENN ES DEN SPEISEZETTEL ALS MARTINSGANS UND FESTTAGSBRATEN BEREICHERT.
„Bevor die Dithmarscher Gänse aus bäuerlicher Freilandhaltung im Ofen
knusprig brutzeln, führen sie ein artgerechtes Leben: freier Auslauf, natürliches,
getreidereiches Futter und tierschutzgerechte Haltung. Das wird
durch reichlich festes Brust- und Muskelfl eisch belohnt“, werben die Dithmarscher
Bauern für ihre Gänse und nehmen bis zu elf Euro pro Kilogramm
für die frische Gans.
Für etwa 20 Euro gibt es eine ganze polnische Hafermastgans, fünf bis
sechs Kilogramm schwer. Sie hatte es nicht ganz so kommod wie ihre
deutschen Vettern und Cousinen, die nicht so rigoros voll gestopft werden
und viel Auslauf haben. Eine polnische Gans, die im Stall gemästet wird
und eine Wiese, wenn überhaupt, nur von weitem sieht, erreicht in 15
Wochen ihr Schlachtgewicht, bei Weidehaltung dauert es doppelt so lange.
Doch schmeckt die billigere Gans schlechter?
Im Vergleichstest, dem der Autor beiwohnte, konnte eher die gegenteilige
Erfahrung gemacht werden. Das Ergebnis als Trendmeldung: Die Dithmarscher
Gans hatte eine zähe, sehr harte und trockene Brust mit wenig
Geschmack, die Keulen waren sehr fasrig wie bei gepökelter Ware. Die
Biogans war nicht nur trocken, sie hatte auch praktisch kein Aroma. Am
besten kam bei verschiedenen Testern durchweg die polnische Billiggans
an. Sie war nicht nur am saftigsten, sondern hatte auch einen feinen Geschmack.
Zur Ehrenrettung von Gastro-Kritiker Wolfram Siebeck bleibt noch zu erwähnen:
Die Gans, die bei uns als traditionelles Gericht zum Martinstag
oder an Weihnachten gegessen wird, hat den Einzug in die Spitzengastronomie
nie geschafft – sie gilt als zu fett für die feine Küche. Hier dominiert
die Ente. (ra)
FOTO: PHOTOCASE.COM © MISS X
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