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Fleischbeschau

geschrieben von LoRenz im Februar 2018

War früher eigentlich wirklich alles besser als heute? Und wenn ja, warum nicht?

Neulich war ich in Hannover, um mich mit meinen Geschwistern zu treffen. Wir sind dort geboren und aufgewachsen, doch inzwischen lebt niemand von uns dreien mehr in der Landeshauptstadt. Deshalb war dieser Ausflug von langer Hand geplant. „Viel Spaß!“, hatte meine Gattin, bekennende Hannover-Hasserin, uns noch voller Sarkasmus gewünscht, als sie von den Plänen hörte. Sie findet die Stadt nämlich hässlich, bestenfalls langweilig. Ihre Bewohner bezeichnet sie zu meinem Leidwesen immer mal wieder als „Möchtegern-Hamburger“, eines ihrer Lieblingsschimpfwörter, denn sie hält die Hannoveraner für arrogant und besserwisserisch. Von dieser herben Kritik schließt sie natürlich alle guten Freunde und Verwandten, die in der Niedersachsenmetropole leben oder von dort stammen, aus – mich jedoch ausdrücklich nicht.
Hoch motiviert also traf ich meine Schwester und meinen Bruder am späten Nachmittag bei „Max Walloschke“. Das Restaurant am Rande des berüchtigten Steintorviertels bietet „Gutbürgerliche Küche“, was auf ein eher überschaubares Angebot für Veganer hindeutet. Sein erster Besitzer, Max Walloschke, war zunächst Amateur-Ringer und wurde in dieser schönen Sportart 1948 Deutscher Meister im griechisch-römischen Kampfstil, in den beiden darauf folgenden Jahren im Freistil; seine Gewichtsklasse: „Mittelgewicht“. Zur Gewichtsklasse „Schwergewicht“ gehört definitiv bis heute das Eisbein, das Walloschke seinen Gästen seit der Eröffnung des Restaurants im Jahr 1952 als Hauptattraktion der Speisekarte anbot. Inzwischen war er nämlich Berufsringer geworden, damals „Catcher“, heute „Wrestler“ genannt, und verdiente offenbar bei den „Internationalen Wettkämpfen“ in einem Zirkuszelt auf dem hannoverschen Schützenplatz eine ordentliche Stange Geld. Während viele ehemalige Fußballprofis damals nach der Karriere eine Lotto-Annahmestelle eröffneten, investierte Max in sein Restaurant und stand noch in den 80ern gut gelaunt hinter der Theke.
„Bei Max“ ist die Zeit stehen geblieben: Von der Theke über den Garderobenständer bis zu den Stellwänden im Schaufenster, die mit ihren gelben Butzenfenstern den Passanten draußen den Blick auf die Gäste drinnen verwehren – alles noch wie in den 50ern! Während mein Bruder und ich tapfer den Nahkampf jeweils mit einem Eisbein aufnahmen, dazu Sauerkraut, Salzkartoffeln und sehr viel Senf, hatte meine Schwester sich eine Rindsroulade bestellt. Trotzdem brauchte sie mindestens genauso viel Schnaps wie wir, denn es wollte ihr einfach nicht gelingen, den Anblick des imposanten Fleischberges auf unseren Tellern zu ignorieren. Wir schwelgten in Erinnerungen, stellten dabei auch fest, was sich hier inzwischen doch verändert hatte. So vermissten wir zum Beispiel die Kellnerinnen von früher, ganz in schwarz gekleidet, mit weißem Häubchen und weißer Schürze, unter der das riesige Portemonnaie versteckt war. Diese Damen waren immer wortkarg bis übel gelaunt, hatten wenig Verständnis für Unentschlossenheit bei der Bestellung oder für Sonderwünsche. Der Statur nach zu urteilen handelte es sich bei ihnen vermutlich auch um ehemalige Catcher­innen vom Schützenplatz, die der Grund waren, warum Jugend­liche damals keinen Zutritt zum Wettkampfzelt hatten. Eine andere Veränderung erschütterte vor allem meinen Bruder: Als ich berichtete, unseren Tisch über die Website des Restaurants online bestellt zu haben, legte er langsam sein Besteck beiseite und sah mich ernst an. „Pass mal auf!“, belehrte er mich streng, „Einen Tisch bei Walloschke reserviert man nicht übers Internet, sondern per Telefon mit Wählscheibe!“
Auf dem Weg zum Theater am Aegi, für das wir Karten besorgt hatten, streiften wir das Rotlichtviertel am Steintor. Vor einem Gebäude blieben wir stehen. Hier befand sich früher Max Walloschkes einzige echte Konkurrenz – das „Eisbeineck“. Die Einrichtung war damals etwas steriler als bei Max, im Chic der 60er, es servierten ausschließlich Herren in schwarzer Hose, weißer Jacke, weißem Hemd und schwarzem Schlips. Etwa Mitte der 80er musste das „Eisbeineck“ einer Peepshow weichen. Anstelle heißer Schweinebeine mit blauem Stempel vom Fleischbeschauer gab es dort von nun an heiße Damenbeine mit Tattoos zu besichtigen.
Im „Aegi“ trat an diesem Abend Urban Priol auf. Doch wir wurden nicht warm mit dem Idiom der Spessart-Aborigines (O-Ton Priol), irgendwie wollte das nicht so recht in unseren Heimatabend passen. So verließen wir das Theater, als Priol nach mehr als 100 Minuten Programm endlich Pause machte, und schleppten uns in die benachbarte Kneipe, die uns, unter anderem Namen, schon zur Schulzeit während so mancher Theaterbesuche mit dem Deutschkurs gerettet hatte. Diesmal wurde dort an den Nachbartischen Englisch gesprochen, von Briten, Iren und Kanadiern, während wir dagegen im Verlauf des Abends immer mehr ins gute alte „Hannöversch“ gerutscht waren. Sie wissen schon: nicht „Hannover an der Leine“ sondern „Hannover anner Laane“. Beim Abschied erklärte mein Bruder den erstaunten Kanadiern, dass es ein Hannoveraner war, der Kanada nicht nur entdeckt, sondern dem Land auch den Namen gegeben hat. Der sei nämlich 1583 über den Atlantik gesegelt, habe kurz das menschenleere Land betreten und sich sofort wieder auf die Rückreise gemacht, mit der treffenden Bemerkung: „Kaaner da!“(LoRenz)
Foto: 123rf.com © iakovenko

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