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Kriegswirren

geschrieben von Prof. Dr. Werner H. Preuss im Januar 2013

LÜNEBURG IM KRIEGSJAHR 1813 (TEIL 1)

An vielen Orten gedenkt man 2013 mit Schlachtennachstellungen und historischen Biwaks der kriegerischen Ereignisse vor 200 Jahren, so auch der „Göhrde -Schlacht“ am 16. September 1813. Den Höhepunkt bilden die Veranstaltungen zwischen dem 17. und 21. Oktober in Leipzig zur Erinnerung an die entscheidende „Völkerschlacht“. Auch Lüneburg war im März und April 1813 Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen. Während man 1863 und 1913 große nationale Feiern inszenierte, legt man heute Wert auf Zeichen der Versöhnung und Völkerverständigung, insbesondere mit Franzosen und Russen. Ein deutscher Patriot, der sich bemühte, auch der französischen Seite Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war Wilhelm Görges, der hochangesehene Professor am Lüneburger Johanneum. Auf der Grundlage aller erreichbaren gedruckten und vieler privaten Aufzeichnungen verfasste er 1913 die Chronik „Lüneburg vor hundert Jahren“. Er stellte fest, dass die französischen Soldaten nach erster Verunsicherung in Lüneburg durchaus willkommen waren. Unter dem 20. Juli 1803 verzeichnet er: „Die französischen Truppen führen sich gut auf und harmonieren mit den Bürgern, so weit es bei der schweren Einquartierungslast möglich ist.“ So erinnerte sich Wilhelm Friedrich Volger später besonders daran, wie zu Fastnacht „anno 1804 das ganze französische Offi zierskorps zu Fuß und zu Pferde in wunderbaren Gestalten und noch wunderbareren Gebärden mit und ohne Haarbeuteln am hellen lichten Tage die Gassen der Stadt durchzog“. Ihr Lager schlagen die Soldaten hinter Lüne auf, die „Zelte von freundlichen Gärten und Rasenplätzen umgeben. […] Die Bardowickerinnen halten zweimal in der Woche einen Markt mit grünem Gemüse in Lüne. Viele Hamburger lockt das Lager.“ Als die Franzosen am 24. September 1805 in den dritten Krieg gegen eine übermächtige Koalition der alten Mächte ziehen mussten, sah man sie nur ungern die Stadt verlassen: „Viele Tränen flossen beim Abmarsch des 27. Chasseurs-Regiments, das hier 2 ¼ Jahre gelegen, und zwar von beiden Seiten.“ Ganz anders empfand man die Einquartierung der nachrückenden Preußen. Man war erleichtert als sie an Napoleons Geburtstag, dem 15. August 1806, wieder abmarschierten. „Sie waren beim Bürger sehr wenig beliebt gewesen.“

„WIR HATTEN DAS SCHRECKLICHE SCHAUSPIEL DER HINRICHTUNG ZWEIER SCHMUGGLER, DIE ZUM TODE VERURTEILT UND DURCH DIE GUILLOTINE ENTHAUPTET WURDEN.“

Zum Stimmungswechsel in der Bevölkerung während der folgenden Jahre trug die immer drückender werdende Kriegsökonomie bei, die der Lüneburger Wirtschaft insbesondere mit dem Handelsverbot für englische Waren („Kontinentalsperre“) die Grundlage entzog. Denn Haupteinnahmequelle war der Speditionshandel, von dem Fuhrleute, Schiffer und viele andere Gewerbe sowie eine große Zahl von Tage löhnern lebten. Hinzu kamen Zwangsrekrutierungen, immer neue Steuern und die Lasten der Einquartierungen. Mancher verdiente freilich auch an der Truppe, und die Saline konnte nach Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz ihren Umsatz endlich wieder steigern. Der Schmuggel blühte, wurde aber unnachsichtig verfolgt. Spediteur Langermann notierte in sein Tagebuch: Am 7. Dezember 1812, mittags 12 Uhr, „hatten wir das schreckliche Schauspiel der Hinrichtung zweier Schmuggler (Faber und Zufall mit Namen), die, weil sie, mit dicken Stöcken („quetschenden Instrumenten“) versehen, ergriffen waren, zum Tode verurteilt und auf öffentlichem Markte durch die Guillotine enthauptet wurden.“ Das Fallbeil war dafür aus Hamburg geholt worden und stand vermutlich vor dem Heine-Haus. Die beiden Männer aus Bremen hatten sich den Zollbeamten mit Knüppeln widersetzt. Erst am 26. August 1812 waren zwei Zöllner von schmuggelnden Soldaten bei Deutsch Evern erschlagen worden.

Mit dem Untergang der Großen Armee in Russland 1812 begann die Kriegsphase, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr zum Gründungsmythos der deutschen Nation verklärt wurde: der „Befreiungskrieg“. Wer davon spricht, lastet die unerträglichen Lebensbedingungen nicht dem Krieg als solchem, sondern der „Fremdherrschaft“ an. Ein Ressentiment gegen „die Franzosen“, die im 18. Jahrhundert noch als „Höfl inge“ verachtet worden waren und nun im Gegenteil als „Revolutionäre“ gefürchtet wurden, schwingt schon kräftig mit. In den folgenden Jahrzehnten wächst es sich zur verhängnisvollen „Erbfeindschaft“ aus.

„FREMDHERRSCHAFT“ WAR NICHT NUR EIN ERGEBNIS VON KRIEGEN. DIE HERRSCHERHÄUSER VERERBTEN, TAUSCHTEN UND VERSCHENKTEN LÄNDER UND BEVÖLKERUNG AUCH ALS MITGIFT.

„Fremdherrschaft“ war in Europa bis zum Ende des 1. Weltkriegs weitverbreitet – von den Überseekolonien ganz zu schweigen. Preußen und Russland herrschten über Polen, Österreich über Ungarn und den Balkan. „Fremdherrschaft“ war nicht nur ein Ergebnis von Kriegen, die Herrscherhäuser vererbten, tauschten und verschenkten Länder und Bevölkerung auch als Mitgift, als wären sie ihr Eigentum; Napoleon machte darin keine Ausnahme: Er dehnte das Kaiserreich Frankreich bis nach Lübeck an die Ostsee aus. Die Lüneburger wurden Franzosen und Lüneburg Hauptstadt eines französischen Arrondissements (Landkreis). Der „Befreiungskrieg“ von 1813 brachte den Hannoveranern weder die politische Freiheit (Verfassung und Bürgerrechte) noch das Ende der „Fremdherrschaft“. Er restaurierte dagegen die Herrschaft Georg III. von England, der 30 Jahre zuvor beim Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel Tausende deutscher Untertanen eingekauft und gezwungen hatte, im Unabhängigkeitskrieg (1776–1783) auf die amerikanischen Siedler zu schießen, der aber während seines langen Lebens die hannoverschen Stammlande nie betreten hat. Authentisches kann man darüber in Schillers „Kabale und Liebe“ (2. Akt, 2. Szene) lesen.

Nachdem alle französischen Truppen am 18. März 1813 die Stadt vorübergehend verlassen hatten, erfüllte „grenzenloser Jubel“ die Stadt. „Die Schiffsknechte, die unter der Kontinentalsperre besonders gelitten hatten, zogen mit Musik und Fahnen durch die Straßen, und zum ersten Male seit zehn Jahren hörte man das altvertraute ‚God save the king‘.“ Am 21. März zog ein russischer Offi zier mit 74 Kosaken in Lüneburg ein, und am 24. März erließ der frühere hannoversche Oberstleutnant Albrecht von Estorff „in Lüneburg einen Aufruf zur Errichtung eines Regiments Husaren und eines Regiments Jäger zu Fuß für englische Rechnung und im englischen Sold“ unter dem Befehl des Hauptmanns Wilhelm Ludwig Langrehr. Das neue Husarenregiment bestand gerade einmal „aus einem Offi zier und sieben Mann, denen sich berittene Einwohner anschlossen“, als der französische General Morand am 1. April mit zwei Bataillonen sächsischer Infanterie und einem Bataillon Franzosen, insgesamt etwa 2.600 Mann, und 13 Kanonen auf das Neue Tor anrückte. Es kam es zu einem Fiasko; „die, welche auf den unsinnigen Gedanken gekommen waren, das Tor gegen überlegene reguläre Truppen, die mit Geschütz reichlich versehen waren, zu verteidigen, bestanden aus den freiwilligen Schützen unter Langrehrs Führung, denen sich einzelne Bürger und etwa 200 mit Piken bewaffnete Bauern angeschlossen hatten. […] Wahrscheinlich sind die meis ten bei den ersten Kanonenschüssen davon gelaufen; die andern ließ der Oberstleutnant v. Estorff durch den Husaren Henning auffordern, auseinander zu gehen. So konnten sich fast alle in Sicherheit bringen. Nur zwei wurden mit den Waffen in der Hand ergriffen, der Friseur [Franz] Spangenberg und der Arbeiter [Ludwig] Gellers – und sofort vor dem Altenbrücker Tore standrechtlich erschossen.“ Die beiden Freischärler, die dieses Tor bewacht hatten, wurden am 1. April 1863 mit einem Gedenkstein geehrt, der mehrmals versetzt wurde und heute an der Dahlenburger Landstraße auf der Höhe des Ziegelkamps zu fi nden ist. Er trägt ein Kreuz auf einem Sockel aus Granit, in den eine Eisen tafel mit der Inschrift eingelassen ist: „Hier ruhen die Gebeine zweier Männer aus Lüneburg, des Bürgers Franz Spangenberg und des Einwohners Christ. Ludw. Wilh. Gellers. Im Dienste des Vaterlandes unter den Waffen gefangen genommen, wurden beide auf diesem Felde am 1. April 1813 erschossen. Bürger setzten diesen Denkstein am 18. März 1863.“

Zu Füßen dieses Denkmals liegt die große, beinahe leere Steinplatte, die schon 1818 auf ihr Grab gelegt worden war. Auf ihr steht lediglich: „Hier ruhen die Gebeine zweier Männer aus Lüneburg, eines Bürgers Franz Spangenberg und eines Einwohners Christ. Ludw. Wilhelm Gellers.“ Die „absichtlich und mit gutem Grunde von der Behörde verstümmelte Inschrift“, die keinen Hinweis auf die Umstände ihres Todes gibt, spricht eine deutliche Sprache – die der politischen Zensur im Königreich Hannover, das an den „Freiheitskampf“ vor fünf Jahren (!) nicht mehr erinnert werden wollte. Die ganze Inschrift lautete – oder hätte vielmehr lauten sollen: „Hier ruhen die Gebeine zweier Männer aus Lüneburg, eines Bürgers F. Spangenberg und eines Einwohners C.L.W. Gellers. Die Stadt zu vertheidigen, hatten sie die Waffen ergriffen, gefangen vom Feinde sind sie grausam gemordet auf diesen Hügeln am 1. April 1813. Durch solche Thaten haben die Franzosen ihr Andenken verewigt. Am 2. April begann auf diesen Hügeln das rächende Gefecht, jenseits der Stadt hat es siegreich geendigt. Wenige Feinde entrannen dem Verderben: Gerecht ist Gott. – Bürger legten diesen Stein.“

Gott ist gerecht, der Mensch parteiisch. Als Freiheitskämpfer gelten nur bewaffnete Zivilisten des eigenen Volkes, die des „Feindes“ nicht. Wilhelm Görges erklärt: „Man hat das Erschießen der beiden Lüneburger Bürger damals einen grausamen Mord genannt. Aber die Anschauungen haben sich geändert, seitdem unsere Truppen im Kriege 1870/ 71 genötigt gewesen sind, mit derselben Strenge vorzugehen.“ Hinter dem Wort „Strenge“ verbirgt sich ein grausames Kriegsverbrechen, nicht allein im Deutsch-Französischen Krieg, sondern mehr noch im Ersten und Zweiten Weltkrieg: die „Partisanen-Bekämpfung“, das Niederbrennen ganzer Ortschaften und das Erhängen oder Erschießen ganzer Einwohnerschaften als „Strafaktion“. An die „Genfer-Konvention“, die Kriegshandlungen von Zivilisten und gegen Zivilisten ächtet, halten sich beide Seiten nicht. Sachsen und Franzosen verfolgten noch die fl üchtenden Kosaken. Dabei kamen etwa 30 Einwohner, darunter auch Frauen, in den Straßen Lüneburgs zu Tode.

FOTO: HANS-JOACHIM BOLDT, FOTO: PREUSS FOTO: WILHELM RIEGE REPRO: PREUSS

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