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Marie Gravenhorst

geschrieben von Constanze Sörensen im Oktober 2011

MÄZENIN MUSIKALISCHER TALENTE UND INITIATORIN DER LÜNEBURGER SALONKULTUR

Marie Stieck, so lautete ihr Mädchenname, erblickte am 11. August 1850 in Lüneburg das Licht der Welt. Sie wuchs unbeschwert umgeben von der älteren Schwester Anna und drei jüngeren Geschwistern, Bertha, Hermann und Heinrich, auf. Ihr Vater Dr. Hermann Stieck besuchte in seiner Jugend das Johanneum und studierte nach dem Abitur in Göttingen Medizin. 1847 ließ er sich als Arzt in seinem Elternhaus in der Grapengießerstraße 38 nieder und heiratete ein Jahr später Antonie Lucie Friederike Helmer, die sieben Jahre jüngere Tochter des Lüneburger Landesökonomiekommissars Carl Friedrich Helmer.

Als die Mutter nach schwerer Krankheit an Schwindsucht starb, war Marie gerade einmal sieben Jahre alt. Ihr Vater setzte sich als Sanitätsrat und Bürgervorsteher aufopfernd für die Armen im Sandviertel und im städtischen Krankenhaus ein, doch reichte sein Verdienst oft nicht aus, um die Familie zu ernähren. Gottlob gab es da noch die Großmutter Stieck, die die Familie in Notzeiten unterstützte. So erhielt Marie eine gute Ausbildung als Schülerin in der von Oltrogge gegründeten höheren Töchterschule in der Bardowicker Straße 8/9. Nach ihrem Abschluss 1865 ging sie in den großen Haushalt des Pastorenhauses von Sothen in Amelinghausen in die Lehre.

Die lebens- und reiselustige junge Frau war alles andere als konservativ eingestellt und ihrer Zeit weit voraus. Auf den Lüneburger Clubbällen, wo sie auch ihren Ehemann kennen lernte, war sie eine gefragte Tänzerin. Ihren Vater informierte sie erst über ihr Vorhaben, als sie ihrem Zukünftigen das Ja-Wort gegeben hatte – für damalige Zeiten ein Desaster.

Am 9. April 1869 heiratete sie also aus freiem Willen und Liebe den 13 Jahre älteren Karl Gravenhorst, der sich 1865 als Rechtsanwalt in Lüneburg niedergelassen hatte. Er ging in die Geschichte Lüneburgs ein als Bürgervorsteher-Wortführer, als Kirchenvorsteher, als Gründungsmitglied des Museumsvereins und als Mitglied des Reichstags, um nur einige seiner Ämter zu nennen. Die Stadt Lüneburg ehrte Karl Gravenhorst, indem sie ihm im Jahre 1900, pünktlich zu seinem 25-jährigen Jubiläum als Bürgervorsteher-Wortführer, die Würde eines Ehrenbürgers verlieh und zu seinem 70. Geburtstag im Jahre 1907 gar eine Straße nach ihm benannte. Das Ehepaar Gravenhorst lebte nach der Hochzeit in einer hübsch eingerichteten Wohnung in einem der ältesten Häuser der Stadt: Am Berge 35. Das erste Kind der Gravenhorsts, Otto, kam am 6. September 1870 zur Welt. Er absolvierte ein Jurastudium und wurde Amtsrichter in Bramstedt bei Kiel, doch fi el er im ersten Weltkrieg in Frankreich. 1872 wurde die kleine Tochter Sophie geboren. Sehr zierlich sei sie gewesen, so heißt es, daher wurde sie von ihrem Bruder „Teine Utentone“ gerufen, was soviel heißen sollte wie kleine Uhrkonsole. Nach dem Besuch der höheren Töchterschule in Lüneburg war sie unter anderem Mitverfasserin des Artikels „Lüneburg in der Allgemeinen Deutschen Biographie“. Das jüngste der Kinder, Karl, wurde 1876 geboren. Er wurde Rechtsanwalt und Notar und Vorsitzender des Anwaltsvereins in Lüneburg.

Bei den Besuchen bei ihrer Schwester Anna Gildemeister in Berlin wurde Marie zahlreichen Berühmtheiten vorgestellt, so auch Kaiser Wilhelm I., dem Grafen von Wrangel, dem Opernsänger Albert Niemann, der Sängerin Pauline Lucca, der Hofschauspielerin Anna Schramm und dem Schauspieler und Komiker Karl Helmerding. Vielleicht waren diese Besuche der Auslöser, diese inspirierenden Begegnungen auch in der Heimat fortzusetzen, und so lud sie häufi g namhafte Künstler jener Zeit zu sich nach Hause ein. 1874 kaufte ihr Mann das mittlerweile renovierte und erweiterte Elternhaus in der Grapengießerstraße 38 von ihrem Vater. Das großbürgerliche Wohnhaus besaß im oberen Ostteil einen Salon mit kostbar bemalten Stuckdecken. Diese auf Leinen gemalten barocken Deckengemälde zählten zu den wohl schönsten der Stadt. In diesen Räumen fand künftig gepflegte Konversation unter der Moderation von Marie Gravenhorst statt. Schnell wurde sie bekannt für ihre Gastfreundschaft und die unvergessenen Abende, bei denen sie ihre Besucher auch gern einmal mit ihrer betörenden Altstimme in den Bann zog. Nach vokaler und instrumentaler Musik und interessanten Vorträgen ging man meist zu den kulinarischen Genüssen über.

Ihre Klagen über die fehlende Gesangsausbildung brachten sie schließlich dazu, Gesangstunden bei dem Opernsänger Bletzacher zu nehmen. Wenn sie selbst nicht durch ihre Musik berühmt wurde, so dachte sie, konnte sie ihr Wissen immerhin für die Unterstützung einer jungen talentierten Lüneburgerin mit Namen Charlotte Huhn einsetzen. Sie trat für eine gründliche Gesangsausbildung des jungen Talentes in dem städtischen Konservatorium in Köln ein und sorgte für die fi nanzielle Unterstützung durch wohlhabende kunstverständige Kreise und den Magistraten der Stadt. Ein sehr inniges Verhältnis verband darauf hin Marie und die später berühmten Opernsängerin, was die Briefe von Charlotte Huhn an ihre Förderin bezeugen.

Marie Gravenhorst beeinfl usste – ebenso wie ihr Mann – das geistige Leben Lüneburgs. Sie gilt noch heute als Initiatorin eines Vortragszyklus, der von 1897 an sechsmal jährlich in der Aula des Johanneums stattfand und auswärtige Wissenschaftler, Theologen, Literatur- und Kunsthistoriker mit Rang und Namen nach Lüneburg einlud. Aus den anfänglich beträchtlichen Überschüssen dieser geistreichen Abende konnten Spenden für weitere gemeinnützige Zwecke gesammelt werden. Diese Vortragsreihen mögen wohl die Vorläufer der Universitätswochen der Stadt gewesen sein.

Marie Gravenhorst starb am 16. Dezember 1931 mit 81 Jahren in Lüneburg. Begraben wurde diese kulturinteressierte, rührige Frau auf der Familiengrabstätte des Zentralfriedhofes.

Quelle: Constanze Sörensen „Biographien Lüneburger Frauen“, 2005

Grapengießerstraße 38. Links: Ansicht um 1900, Zeichnung von A. Brebbermann, 1987. [Plath, Uwe (1994), S. 45] Rechts: Postkarte, um 1900, von Vierorten aus gesehen. [Plath, Uwe (1994), S. 49]