Omas Fensterplatz
geschrieben von Horst Beckmann im Oktober 2012Die folgende Geschichte ist dem Buch „Aus Grossmutters Zeiten“ entnommen

Großmutter hatte ihre Wohnung im Parterre:
Wohnzimmer, Kabinett und Küche, Speisekammer,
die Toilette mit Wasserspülung auf
halber Treppe. Omas Lieblingsplatz war der alte
braungelbe Korbstuhl am Fenster, der tüchtig
knarrte, wenn sie sich hineinsetzte. Von ihm aus
hatte sie alles im Blick, was sich vor ihrem Haus
„An der Marienkirche 2“ zutrug. Die Straße und
den als Park angelegten Platz vor der Kirche nannte
man den Kirchplatz. Je nachdem, was und wen sie
sehen wollte, machte sie von den Gardinen Gebrauch.
Wollte Oma unbeobachtet bleiben, schaute
sie durch die Gardinen, sonst wurden diese zurückgezogen.
Für den Haushalt war Großmutter kaum noch zuständig.
Sie sorgte aber für uns Kinder, wenn wir
aus der Schule kamen, auch das
Kartoffelschälen für die Großfamilie
war jeden Tag ihre Aufgabe.
Wir Kinder schauten gern zu, besonders als wir
noch klein waren, und freuten uns, wenn Oma eine
besonders lange Schale von einer Kartoffel schälte.
Aber es passierte auch, dass die Schale vorher abriss.
So haben wir dann mit Oma auf Sieg gesetzt.
Wenn die Schale bis zum Schluss erhalten blieb,
hatte Oma gesiegt, wenn sie aber vorher abriss,
hatte sie verloren. Bei dieser Arbeit beobachteten
wir Großmutters mit welker und faltiger Haut überzogenen
Hände, und es machte uns Spaß, wenn
wir die Haut auf dem Handrücken zusammenzogen,
sie dann hochstellten und mit Omas Haut eine
„Mauer“ bauten.
Vieles konnte Großmutter von ihrem Fensterplatz
aus beobachten, so auch vor Weihnachten, wenn
vor der Tür die unzähligen großen und kleinen
Tannenbäume verkauft wurden und das oft bei
grimmiger Kälte. Die Verkäufer schlugen dann
hüpfend ihre Arme um den Leib, um sie wieder
warm zu bekommen. Wenn Kunden kamen, war es
natürlich interessant, sie beim Handeln zu beobachten,
bis dann die kleinen Münzen ihren Besitzer
wechselten – und die Bäume auch.
Lustig ging es zweimal im Jahr beim Jahrmarkt zu.
Die Marktbuden standen bis zu unserem Haus. Die
Angebote vom „billigen Jakob“ drangen bis in unsere
Stube, ob es Bananen waren, Aale, Blumentöpfe
oder andere Sachen. Besonders interessant
war aber der Blick über den Kirchplatz, den Großmutter
gut im Auge hatte. In der Parkanlage standen
unter alten stattlichen Buchen einige Ruhebänke.
Für uns Kinder war es der beste Tummelplatz,
und Oma hatte auch ihre Freude an unserem
Tun, bis dann plötzlich der Parkwächter auftauchte,
der von der Stadt für alle Parkanlagen angestellt war.
Vieles konnte Grossmutter von ihrem Fensterplatz aus beobachten.
Das Spielen im Park war nämlich verboten. So bekamen wir vor ihm Angst, zumal er von einem kräftigen, zähnefletschenden Hund begleitet wurde. Vom Kirchplatz aus konnte man eine breite Freitreppe zur diagonal vorbeiführenden Königstraße benutzen. Auch sie wurde von einem kleinen Platz unterbrochen, auf dem das Kriegerdenkmal stand, eine Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und an den Ersten Weltkrieg. Kritische Bürger hielten das Monument für ziemlich kitschig. Auf einem hohen Sockel, zu dem ringsherum Treppchen führten, stand eine überlebensgroße, nackte, muskulöse Männerfigur aus Sandstein mit einem Stahlhelm auf dem Kopf und erhobenem Schwert in der rechten Hand. Für Hitler gehörte das Werk offensichtlich nicht zur entarteten Kunst, denn es war immerhin ein Heldendenkmal. Einmal im Jahr stand es im Mittelpunkt, und zwar am sogenannten Heldengedenktag, dem zweiten Sonntag im März. Dann marschierte eine Ehrenkompanie von den Garnisionskasernen auf, vorweg zwei Kranzträger und eine kleine Musikkapelle. Der Regimentskommandeur, ein Oberst, fuhr in einer Limousine vor. Zu der Soldatengruppe gehörten zwei in Paradeuniform gekleidete Soldaten mit Stahlhelm und Gewehr über der Schulter, die sich auf Kommando links und rechts neben das Denkmal postierten, strammstanden, schweigend und unbeweglich. Alle zwei Stunden wurden sie im Laufe des Tages mit der gleichen Zeremonie abgelöst. Aber zunächst gab es mit der Ehrenkompanie eine Feierstunde, bei der der Oberst eine Rede zur Erinnerung an die gefallenen Kameraden hielt. Der kleine Platz vor dem Denkmal eignete sich vorzüglich für diesen feierlichen Akt. Für Großmutter an ihrem Fensterplatz war der Aufmarsch mit der Ansprache und der späteren Wachablösung ein besonderes Erlebnis. Alles konnte sie gut mithören und verstehen, und sie nahm so an dem eindrucksvollen Geschehen Jahr für Jahr teil. Dabei erinnerte sie sich ihrer beiden Söhne Paul und Otto, die im Ersten Weltkrieg vom Fronteinsatz nicht zurückgekommen waren, und später auch ihres Großsohnes Gerhard, der gleich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gefallen war. Dann standen ihr immer die Tränen in den Augen, und man durfte sie bei dieser Gedenkstunde nicht stören. Wenn die Zeremonie vorbei war, machten wir Kinder uns gern einen Spaß und stellten uns vor die Ehrenwache, schnitten Grimassen, machten lange Nasen oder versuchten auf andere Weise, diese „Wachsfiguren“ zu verärgern und in Bewegung zu bringen, aber es gelang uns leider nie. Großmutter nahm an ihrem Fensterplatz auch besondere Verpflichtungen wahr, zum Beispiel, als Vaters neues Auto vor der Tür stand. Während es in den ersten Tagen keine Beachtung fand, änderte sich Omas Verhalten nach ihrer ersten Fahrt zum Friedhof. Jetzt wurde es mehr und mehr auch ihr Auto, und da wir noch keine Garage hatten, stand es Tag und Nacht vor der Tür. Wehe, wenn ein interessierter Junge in den Wagen geschaut, womöglich ihn noch angefasst hätte! Dann ging bei der alten Dame sofort das Fenster auf und ein Donnerwetter ließ den Neugierigen schnell verschwinden. Mutter war in Großmutters Wohnstube beim Reinemachen, als Oma eines Tages plötzlich vom Korbstuhl aufsprang, mit der rechten Hand den linken Pantoffel auszog und, mit ihm wedelnd, aus dem Zimmer rannte und dann aus der Haustür auf die Straße.
Der Pantoffel wurde auch ausgezogen, wenn wir sie ärgerten.
Mutter war verwundert, sah aber vor dem Fenster nichts Auffallendes. Als Großmutter zurückkam, erzählte sie empört: „Doa hat doch een Köter vor dem Autorad sin Been jehaube! Wenn dat Rostflecke gift!“ (Da hat doch ein Hund vor dem Autorad sein Bein gehoben! Wenn das Rostflecke gibt!) Aber der Pantoffel wurde auch ausgezogen, wenn wir sie ärgerten. Besonders mein Freund Ulli hatte seine Freude daran, wenn er vor dem Fenster die Oma Beckmann herausfordern konnte wie Max und Moritz den Schneider Böck. Großmutter fackelte nicht lange. Wer die Strafe verdient hatte, bekam sie auch – wenn sie auch meist vergeblich aus dem Haus rannte. Foto: Zeitgut Verlag
Zum Buch: Horst Beckmanns Erinnerungen sind Geschichten aus der guten alten Zeit, wie man sie heute kaum noch zu hören bekommt. Er erzählt von seiner Kindheit und Jugend in Stargard, im damaligen Pommern. Die Großmutter, 1856 geboren, war für Horst Beckmann eine wichtige Bezugsperson. So manche ihrer Marotten und Ansichten, die noch der Kaiserzeit entstammten, sind Material für viele wundersame Anekdoten in diesem Buch. Elektrischer Strom, Radio, Telefon und Automobile waren für die Großmutter noch schlicht Teufelszeug.
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