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Kostbar, aber ungeliebt

geschrieben von Rüdiger Albert im Juni 2011

DAS PLATIN-PARADOX

Was haben Uhren der Luxusklasse, Brillengläser und Brotröster gemeinsam? Bei der Herstellung dieser Produkte wird das teuerste, seltenste, schwerste und reinste aller Metalle verwendet: Platin. Auch dort, wo Metalle auf keinen Fall korrodieren dürfen – in Elektrotechnik und Elektronik, bei Telefonanlagen und Computern; wo höchste Körperverträglichkeit gefordert ist – in der Knochenchirurgie und Zahnmedizin (Goldzähne erhalten ihre Solidität erst durch Platin); dort, wo … eine Liste der Produkte, bei deren Herstellung auch Platin zum Einsatz kommt, könnte eine ganze QUADRAT-Ausgabe füllen.

STATT EL DORADO „EL PLATINO“

Platin ist für die Industrie in etwa so bedeutend wie die Französische Revolution für die Geschichte Europas. Seine Erfolgsstory beginnt in Südamerika. Die Konquistadoren suchen El Dorado und fi nden „El Platino“. Auf der Suche nach den sagenhaften Schätzen aus Gold, Edelsteinen und Silber stört die Spanier das vermeintlich minderwertige Metall. Sie nennen es Platina, schäbiges Silber. Die ersten Goldgräber, die das glanzlose Metall in die Hand nehmen, werfen es wütend und enttäuscht in den Fluss von Platina del Pinto zurück.

1751 untersucht H. T. Scheffer, ein schwedischer Chemiker, „das unreife Gold“ – und erkennt in Platin erstmals ein eigenständiges Edelmetall. Dem deutschen Forscher F. C. Achard gelingt es erst 30 Jahre später, Platin zu gießen. Fast postwendend reüssiert Platin am französischen Hof. Marc Etienne Janety, der Goldschmiedemeister Ludwig XVI., verhilft dem Edelmetall zur ersten Glanzzeit: als modisches Tafelgeschirr.

KOSTBARER TAUSENDSASSA

Mit dem Sturm auf die Bastille endet abrupt Teil eins der Platin-Karriere. Die Revolutionäre statuieren ein historisches Exempel und schmelzen die Schmuckstücke ein: Marc Etienne Janety, inzwischen zum Revolutionär konvertiert, schmiedet aus platinen Salzstreuern, Kannen, Tellern und Tassen, aus Indizien vergänglichen Glanzes 1795 den Urmeter und das Urkilogramm. Unzerstörbar wie die Menschenrechte sollen die neuen Maßstäbe chemischen und physikalischen Einfl üssen trotzen. Urmeter und Urkilogramm können übrigens heute noch unversehrt im Palais de Breteuil zu Selvres in Paris bewundert werden.

Mit der Gewerbefreiheit und der Einführung des neuen metrischen Systems beginnt auch die unaufhaltsame Ausweitung der technischen Welt. Die Chemiker lernen Platin als Katalysator schätzen, der durch seine bloße Anwesenheit Reaktionen in Gang zu setzen vermag. Mit der Glühlampe, der industriellen Großfertigung von Säuren, mit Ammoniak und Öl und schließlich mit dem Automobil steigt der Bedarf am einstmals als schäbig eingeschätzten Pseudo-Silber. Platin avanciert zum teuersten aller Edelmetalle und kostet um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert achtmal soviel wie Gold.

Noch zu Beginn der zwanziger Jahre ist nichts seltener und nichts begehrter als Platin. Die Goldenen Zwanziger sind eigentlich die Platinen. Das grassierende Platinfi eber affi ziert besonders Howard Hughes. Er verordnet seinem Schützling Jean Harlow sogar eine Frisur in Platin-Blond. Die Therapie hilft. Jean Harlow erklimmt mit der neuen Haarfarbe den höchsten Hollywood-Gipfel. Doch ebnet Platin nicht nur Karrierewege — es macht auch Mühe, denn gebohrt werden muss mindestens 2000 Meter tief. Der Platingehalt in den besten Lagen beträgt drei Gramm pro Tonne Gestein. Um eine Unze Ewigkeit zu ernten – das sind 31,1 Gramm Platin pur —, werden zehn Tonnen Erz gefördert. Gezählte 150 chemische Prozesse müssen in Gang gesetzt werden, um das hellgraue, silberglänzende Metall von begleitenden Metallen und Mineralien zu trennen; Dauer der kompletten Prozedur: rund fünf Monate; Jahresernte: 100 Tonnen, ein Fünfzehntel der Goldproduktion. Heute kostet ein Kilogramm Platin 40.214 Euro. Die Industrie benötigt etwa 70 Tonnen. Hauptabnehmer mit etwa 44 Tonnen ist die Automobilindustrie, seit Katalysatoren (mit etwa drei Gramm Platin beschichtet) in Japan, Euro pa und USA vorgeschrieben sind.

UNTERSCHÄTZTE SCHMUCKQUALITÄTEN

Viele Juweliere, allen voran Cartier und Tiffany, versuchten seit 1875, das Edelmetall ins rechte Licht des Pretiosenzaubers zu stellen. Die Aristokraten unter den Juwelieren nutzten das Metall für hauchdünne Edelsteinfassungen. Cartier sowie Tiffany verdanken ihren Ruhm den in Platin gefassten Diamanten. Kein Material eignet sich besser, um das Feuer der Brillanten zum Leuchten zu bringen, und kein Material sichert und schützt die Edelsteine zuverlässiger. Gegenüber den bis dahin üblichen plumpen Silberfassungen wirkt es dezent, läuft nicht schwarz an und spant nicht ab. Um die vorletzte Jahrhundertwende fabrizieren Boucheron, Bulgari und Van Cleef Broschen, Haarklammern, Armbänder in Form von Blüten, Ranken und Blättern, selbst in der Art-Déco-Periode brilliert Platin als Zigaretten-Spitze und Zigarren- Etui in Hand- und Hosentaschen der Hautevolee. Heute versucht Platin, aus dem Schatten seiner funkelnden Begleiter heraus selbst ins Rampenlicht zu treten. Gänzlich gelungen ist ihm dies noch nicht, aus einem einfachen Grund: Platin fehlt der historische Mythos, die Aura. Die Saga des Goldes verdammte einst ganze Götterfamilien zum Untergang, bringt der Neuen Welt einen Rausch nach dem anderen, zerstört und schmiedet manch gestandene Männerfreundschaft. Platin dagegen strahlt formale Rationalität aus, was bisher nur wenige Gemüter zu begeistern vermag — es wirkt in gewisser Weise wie ein VW-Käfer mit Porsche-Motor.

Aber immerhin, von den 100 Tonnen Jahresproduktion verarbeiten die Pretiosen-Künstler schon ein Drittel zu Schmuck und erzielen, statistisch gesehen, etwa 1000 Euro pro Schmuckstück im Gewicht von neun Gramm. Platin ist zu allem fähig, Schmuckdesigner haben alle Möglichkeiten. Platin lässt sich hauchdünn ausziehen und walzen. Es lässt sich in Säure legen und unter Spannung setzen, so dass es durch die eigene Spannkraft einen Edelstein ganz sicher hält. Dennoch, Platinschmuck, heute fast immer in betont schlichtem Design, begeistert nach wie vor nur einen kleinen Kreis von Liebhabern: Die Damen unter ihnen bevorzugen Platin-Gold-Mischungen, Herren wählen dezente Manschettenknöpfe. Als Uhren-Material jedoch scheint Platin unverzichtbar geworden zu sein. Wo absolute Präzision erforderlich ist, weiß man seine einzigartigen Eigenschaften besonders zu schätzen. Renommierte Marken wie IWC, Audemars Piquet, Blancpain, Corum, Dunhill, Rolex, Vacheron Constantin und Langhans & Söhne führen Chronometer aus Platin in ihrem Sortiment — freilich fast immer in limitierter Aufl age. So auch Blanc pain. Die Schweizer Manufaktur stellte Ende 1990 eine Uhr mit so genannter großer Komplikation zum eigenen Ruhm für 960.000 Franken vor. Zwei Kilo Platin und zwei Kilo 18-karätiges Gold wurden gerecht auf dreißig „1735“ – so heißt das limitierte Stück – verteilt. Die nach dem Gründungsjahr der Manufaktur benannte Uhr kostet zurzeit 649.310 Euro. Sollte dieses Sümmchen doch die Möglichkeiten der einen oder anderen Portokasse überfordern? Auch hier kann geholfen werden. In Frankfurt am Main sitzt ein Uhrentüftler par excellence: der Hersteller Sinn. In der Branche gilt die Manufaktur wegen seiner Preise als Enfant terrible. Das „Modell 6000 Platin“ ist streng limitiert auf zehn Stück und kostet 19.900 Euro. Na also, es geht doch.

Das Platin-Paradox liegt darin, dass sein greifbarer Wert, sein Gewicht und seine technische Vollkommenheit den ästhetischen Wert noch überwiegen. Zum Inbegriff des Wertvollen wurde es bisher nicht. Dennoch – Platin wäre nicht der erste Froschkönig, der plötzlich als Prinz dasteht. Vielleicht hilft die Braut des Jahres, Kate Middleton, dem Froschkönig auf die Sprünge. Die Herzogin von Cambridge trug an ihrem Hochzeitstag ein Diadem aus reinem Platin: die „Halo-Tiara“. Womöglich der Beginn einer unendlichen Freundschaft: der von schönen Frauen und dem Edelmetall Platin. (ra)

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