Plädoyer für einen kleinen Stinker
geschrieben von Rüdiger Albert im Januar 2012Er schützt vor grippalen Infekten, beruhigt die Nerven und hilft dem Schwachen wieder auf die Beine:
Kohl ist gesund und für jedermann erschwinglich. Getestet und für gut befunden

Kohl hat als Nahrungsmittel eine lange Geschichte: In seiner Urform wurde er vermutlich schon in der Eisenzeit verspeist, bevor ihn (wie üblich) die Römer zum caput (Kopf) heranzüchteten — heute noch verballhornt in der rheinischen Bezeichnung „Kappes“ gebräuchlich. Kohl ist gesund und weit verbreitet — und für jedermann erschwinglich. Er schützt vor grippalen Infekten, er beruhigt die Nerven und hilft dem Schwachen wieder auf die Beine. Das ist aber noch nicht alles. Er unterstützt bei Diäten. Des weiteren lindert er Sodbrennen, senkt den Cholesterinwert und den Blutdruck. Zur Entschlackung wird er auch eingesetzt. Toller Kerl! Oder?
Doch leider weckt der Kohl unter Gourmets nicht gerade Begehrlichkeiten, nur allzu gern denkt man bei ihm an Arme-Leute-Essen und vermiefte Wohnungen (der penetrante Geruch entsteht durch die in allen Kohlsorten enthaltenen Senföle und den hohen Schwefelgehalt). Kohl bläht, es lässt sich nicht leugnen: Dem Völlegefühl nach dem Essen ist allein durch Mitkochen von Kümmel oder anschließenden Einsatz von Kamillen- oder Fencheltee entgegenzuwirken – nicht jedermanns Sache und ein Dilemma, das die Norddeutschen auf ihre Art lösen, indem sie zum traditionellen Grünkohl reichlich kümmelhaltigen Aquavit genießen. Wen wundert es also, wenn heutzutage ein Koch, der auf sich hält, den guten, alten Kohl vorzugsweise nur in einer schon namentlich eher unauffälligen Form anbietet? „Pak Choi“ – perfekt, sehr beliebt: Gleich denkt man an belebende asiatische Küche. „Wirsing“ – geht auch. Es gibt genügend Menschen, die nicht mal über dessen anrüchiger Verwandtschaft informiert sind. „Spitzkohl“ – auch er hat etwas Schlankes, Schnittiges an sich. Ganz schwierig wird’s ausgerechnet bei den Kandidaten mit den anmutigsten Namen: Blumenkohl – denkt hier jemand an blühende Sommerwiesen? Als sprichwörtlichen „alten Stinker“ schmäht man das weiße, zarte Gemüse. Und dann der Rosenkohl! Königin der Blumen, Sinnbild von Liebe und Leidenschaft? Nichts da. Dumpf, bitter und breiig, in Mehlschwitze ermordet: Wer als Kind ein verzweifeltes Sonntagsmahl vor dieser Gemüsebeilage durchgestanden hat, dem ist die Lust am Benjamin unter den Kohlsorten meist auf ewig vergangen.
Kohl weckt unter Gourmets nicht gerade Begehrlichkeiten, nur allzu gern denkt man an Arme-Leute-Essen und vermiefte Wohnungen.
Grund genug, uns bei der Ehrenrettung des Kohls auf diese relativ neue Züchtung zu beziehen: Die Belgier, die in kulinarischen Belangen keinen ganz schlechten Ruf haben, sollen die kleinen Röschen um 1785 aus einer Wildkohlart kultiviert haben – daher ist er unter anderem auch bei uns bekannt als „Brüsseler Kohl“, französisch „choux de Bruxelles“, englisch „Brussels sprouts“. Und der Kleine kann sich tatsächlich sehen lassen: Er enthält Calcium, Eisen, Eiweiß, Folsäure, Kalium, Magnesium, Mangan, Natrium, die Vitamine A, B1, B2, B6, C, E und K sowie Natrium und Phosphor. Er hat einen geringeren Wassergehalt, aber einen höheren Fett-, Protein-, und Zucker-, ergo Nährstoffgehalt als andere Kohlsorten. Die Vitamin C-Menge pro 100 Gramm ist doppelt so hoch wie die von Orangen! Das Blattgemüse enthält also jede Menge Mineralstoffe, Ballaststoffe und Vitamine und verfügt damit über Eigenschaften, die ihm einen gesicherten Platz im Kochtopf ernährungsbewusster Zeitgenossen sichern müssten. Sein nicht unattraktives Aussehen (Rose) müsste ihm auch zu Aufmerksamkeit in der heimischen Küche verhelfen. Weit gefehlt. Tatsächlich kommt heute nur in jedem dritten deutschen Haushalt Rosenkohl auf die Teller. Wo es geschieht, wird er geliebt, heiß, innig (und fast immer zu weich). Von November bis April hat das Wintergemüse Saison. Es passt sowohl zu Fisch als auch zu Schweine- und Rinderbraten, klassisch zu Wildgerichten, und auch püriert ergibt er ein feines Süppchen.
Wie hält es nun die Spitzengastronomie mit dem Rosenkohl? Tja – richtig geraten – genau wie im häuslichen Alltagsleben: mal gern genommen, meist kaum beachtet. Jochen Kempf, Küchenchef im lauschigen „Prinz Frederik Room“ im Hotel Abtei in Hamburg-Havestehude, isst ihn privat „besonders gern als Beilage zu Wildhase“. Im Restaurant bevorzugt er „Schwarzwurzeln“. Sein Menükonzept sehe „zurzeit“ eben knackiges Gemüse vor. Als vorbehaltlos bekennender Rosenkohlfan outet sich Heinz Otto Wehmann: „Ich koche schon seit Jahrzehnten nach dem Jahreszeiten-Kalender!“ – und im Winter schwelgt Deutschland nun mal in Kohl, im „Landhaus Scherrer“ auch in Rosenkohl. An der Hamburger Elbchaussee reicht Wehmann in seinem Gourmettempel zu hochwertigem Fisch, Geflügel oder auch zu Wild Rosenkohlblätter (kurz gedünstet) sowie Rosenkohl als klassische Beilage. In „Wehmanns Bistro“ wird gestowter Rosenkohl mit Kabeljau serviert und das „Ö1“ bietet Rosenkohl-Süppchen mit gerösteter Grützwurst an. Es geht also.
Der Geruch entsteht durch die in allen Kohlsorten enthaltenen
Was machen die Köche in Lüneburg mit dem Kohl? Michael Röhm agiert nach der Devise: „Teuer kochen ist einfach. Einfaches edel gestalten schon um einiges schwieriger“. Also wird im „Heidkrug“ Am Berge Rosenkohl zur Gans gereicht und Rosenkohlpürree zum Hirschrücken.
Der zurzeit erfolgreichste Koch in Lüneburg agiert ein paar Straßenecken weiter. Seit Anfang Oktober wurden hier „1000 Enten“ gebrutzelt. Werden pro Woche „100 Kilogramm Rotkohl“ gedämpft und pro Woche „70 bis 80 Kilogramm Rosenkohl“ geputzt. Das kann sich sehen und vor allem schmecken lassen, was Augustinus Balkenhol und sein Team in der „Krone“ so alles auf den Teller zaubert. Der Küchenchef war von 1992 bis 1998 Maitre im legendären „Landhaus Dill“ in der Hamburger Elbchaussee. Dort weiß man seit seiner Zeit wie das Wintergemüse auf Vordermann gebracht wird. Und seit geraumer Zeit eben auch Lüneburger Leckermäuler. Im Sinne der allseits propagierten Regio- und Saisonalität legt daher ein bekennender Fan allen Köchinnen und Köchen der Stadt den Wunsch ans Herz: Verehrte Damen und Herren – nehmt Euch der kleinen Stinker an!(ra)
Foto: Fotolia.com © Christian Jung
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