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„Sinnergien“ schaffen

geschrieben von Sarah Kociok im Juli 2012

Hier kommt Kunst auf den Tisch

Gerade erst ist die Sonne zum Vorschein gekommen, die Wiese ist noch taufrisch vom warmen Sommerregen und der Klang der Musik schallt dumpf zu ihnen herüber. Das eigentlich laute Stimmengewirr verschwindet fast hinter der Kulisse der Falafel-Holzhütte. „Das kannst Du nicht machen,“ flüstert ein junges Mädchen im Hippie- Outfit und schaut ihre beiden Begleiter­innen entgeistert an. „Pack mal mit an“, antwortet eine der beiden unbeirrt und gemeinsam beginnen sie, die Befestigungen des Objektes der Biegierde zu lösen: „Das passt perfekt in unsere WG-Küche“. Das scheint Rechtfertigung genug zu sein. Gesagt, getan: Die frei jungen Frauen entfernen am helllichten Tag ein Gemälde des argentinischen Street Art-Künstlers ALANIZ vom Campus und passieren ungehindert den Ausgang des Festivalareals — auch wenn sie direkt neben den Securities laufend dann doch etwas unsicher wirken.
Die drei Festivalbesucherinnen des diesjährigen lunatic Festivals auf dem Campus der Leuphana Universität studieren hier vor Ort und wohnen direkt in der Wichernstrasse, wie sie auf Nachfrage berichten. Wie praktisch, denn sie haben eines der knapp 150 SINNERGIE Street Art Parcours-Objekte ergattern können, die im Rahmen des Fes­tivals für und mit den Besuchern entstanden.

Die Rolle des Helmut Sonnephie übernimmt der Schauspieler Thomas Arnold, der bereits in „Das Leben der Anderen“ und als „Tatort“-Darsteller zu sehen war.

Überhaupt: An diesem Wochenende im Juni wundert sich niemand mehr, dass in den Bühnenpausen Lampenschirme, Flugdrachen, umgestaltete Stühle und Masken kommentarlos an Festival­besucher ausgehändigt oder vor die Bühne und mitten auf der Wiese abgestellt werden – einzig und allein mit der plakativen Aufschrift „Nimm mich mit!“ versehen.

Installation, Interaktion, Kommunikation: Ent­decken konnte man StreetArt und Installationskunst auf dem lunatic Festival 2012 also völlig anders – und zwar in Form des SINNERGIE FES­TIVAL PARCOURS. Die kurzweilige Irritation über die wundersame ­Aktion und folglich das Gespräch über die auftauchenden Objekte waren von den Machern des Projektes SINNERGIE gewollt und sollten Aufmerksamkeit für die weiteren interaktiven Street Art-Stationen auf dem Gelände schaffen, denn während des gesamten Festivalwochenendes beteiligten sich insgesamt sieben inter­nationale wie regionale Künstlerteams und Studierende aus Lüneburg und Hamburg an der Aus­gestaltung des Parcours. Dazu zählten unter anderem die Lüneburger Artists ­HUMAN FLASHBOY, JANE, ALL INGO und TRICA sowie ALA NIZ aus Argentinien, BILLY aus England und Teile der Berliner SAM CREW, deren Arbeiten derzeit an vielen Hausecken der Hauptstadt enorme Aufmerksamkeit finden.

Im bewachsenen Arkadengang des Kulturareals Spielwiese konnten Besucher mit dem Lüneburger Sprayer JANE an einer Airbrush-Installation mitwirken, und in den Bäumen drumherum waren Leinwände und freie Gestaltungsflächen ebenfalls zu finden. EMA ALANIZ baute und gestaltete Lenkdrachen aus Recyclingmaterialen und verteilte diese auf dem Gelände. Ein schönes Bild bot sich am Freitagnachmittag, als die Drachen überall auf dem Gelände in die Luft stiegen.

Teile der SAM CREW, ALL INGO und HUMAN FLASHBOY arbeiteten als Kollektiv auf den „Wänden“ des Festivalgeländes und gestalteten große Flächen der Bauzäune um. Vor allem beteiligten sie sich gemeinsam mit den Studierenden an den offenen Stationen des Parcours, in deren Rahmen Möbel und Baustoffmaterialien in Kunstobjekte ungestaltet werden konnten.
Eines hatten alle Beiträge gemein: Sie luden ein zum Mitmachen. Die Motive begeistern durch surreale optische Täuschungen, arbeiten mit Räumlichkeit, Perspektiven, Phantasie und Abstraktion. Viel wichtiger aber ist: Sie spielen mit der materiellen Beschaffenheit der Festivalumgebung.
Lucas Engels, einer der beteiligten Lüneburger Studierenden im Orgateam, beschreibt das Konzept wie folgt: „Gestaltet mit! Denn Kunst muss keinesfalls abstrakt und ausgestellt sein. SINNERGIE beschäftigt sich im Rahmen des lunatic Festivals mit Street-Art in all seinen Ausprägungsformen und kann von den Besuchern – wie im urbanen Raum natürlicherweise auch – auf dem ganzen Festival­areal entdeckt werden, überall dort, wo man es möglicherweise gar nicht erwartet, wo jedoch SINN­ERGIE zwischen Besucher und den Künstlern hergestellt werden kann.

Um hochkarätige StreetArt-Werke innerhalb Lüneburgs entdecken zu können, ist es empfehlenswert auch außerhalb des lunatic Festivals den Campus und die Stadt zu erkunden. Bereits 2010 wurden im Rahmen der Startwoche ART TOTALE renommierte Künstler aus aller Welt eingeladen, ausgewiesene Flächen in der Stadt umzugestalten. Komplexe Gemälde, Collagen mit hoher gesellschaftlicher Aktualität und einer Prise Humor sind keine Seltenheit. Urbane Kunst ist das politische Sprachrohr einer jungen Generation — es lohnt sich hinzuschauen und zuzuhören.(sk)