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Turm-Legenden

geschrieben von APL. Prof. Dr. Werner H. Preuß im Mai 2012

Der Springintgut-Turm war einst Kerker und höchster Wehrturm Lüneburgs

Der Springintgut-Turm war der höchste Wehrturm Lüneburgs. Seine Lage und sein Umfang sind im Pflaster vor der Ritterakademie markiert. Die Grundfläche maß 14 Meter im Durchmesser. Die ursprüngliche Höhe ist nicht bekannt, lässt sich aber schätzen, denn auf allen frühen Stadtansichten ist sein Baukörper größer als der gemauerte Kubus des Michaelis-Kirchturms dargestellt, welcher ganze 41,19 Meter misst. Eine perspektivische Verzeichnung, welche Gegenstände in der Nähe größer erscheinen lässt als in der Ferne, kann man ausschließen, da das Verhältnis zwischen Michaelis-Kirchturm und Springintgut-Turm auf allen Ansichten, ob von Norden oder von Süden, das gleiche ist.

Im Mauerwerk ragte der Springintgut-Turm demnach 42-45m Meter empor. Darüber erhob sich die mit Schiefer gedeckte sechseckige Haube, die vier Stockwerke erreichte und in einer Spitze auslief. Den Bildern zufolge maß die Länge der Haube etwa 2/3 des Baukörpers (28 – 30 Meter), die Gesamthöhe des Springintgut-Turmes also zwischen 70 und 75 Meter über dem Straßenniveau. Zum Vergleich: Der Wasserturm erhebt sich lediglich 54,66 Meter über das Gelände. Aus den 24 Erkern der Dachgeschosse des Springintgut-Turmes, die der Chronist Jürgen Hammenstede zählte, konnte man deshalb nach allen Himmelsrichtungen weit ins Land blicken, bei klarem Wetter sogar bis weit über die Elbe. Da das Gelände damals 14 Meter

über der Meereshöhe lag, erreichte der Turm eine absolute Höhe von etwa 84 - 89 Metern und überragte damit deutlich das Plateau des Kalkbergs, das im 14. Jahrhundert nach unterschiedlichen Schätzungen 66 Meter bzw. 80 Meter über NN lag. Man konnte also vom Springintgut-Turm in die Burg-­Ruine hineinschauen und damit verhindern, dass sich die Ritter des Herzogs dort wieder festsetzten.
Der frühere Stadtarchivar Gustav Luntowski grenzt den Zeitraum der Erbauung auf 1371 bis 1409 ein. Das hohe Schiefer-Dach mit den 24 Erkern und dem kupfernen „tynappel“ („Zinnen-Apfel“) als ­Abschluss des Turmhelms erhielt der Springintgut-Turm 1438. Ursprünglich nannte man ihn den ­hohen „vangentorn achter sunte Michel in dem Grale“ (Gefängnisturm hinter der St. Michaelis-­Kirche). Das Wort „Gral“ hat dabei nichts mit dem „heiligen Gral“, dem Kelch des letzten Abendmahls Christi, zu tun, sondern ist verwandt mit „grölen“, denn es bezeichnet einen Platz, auf dem fröhliche Feste, Spiele, Tanz und Turniere im Freien veranstaltet wurden; und die sind naturgemäß mit viel Lärm verbunden.

In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1562 schlug der Blitz in den Springintgut-Turm ein. Der Dachstuhl ließ sich von unten her nicht löschen und brannte zwei Tage lang. Damals entging Lüne­burg knapp einer weit größeren Katastrophe, denn in dem Gemäuer lagerten nach Auskunft von Ludwig Albrecht Gebhardi „14 Last“ (etwa 28 Tonnen)

Schießpulver, das sich glücklicherweise nicht entzündete! Danach erhielt der Turm einen neuen niedrigeren Helm.
Während des Dreißigjährigen Krieges brachten die herzöglichen Brüder Friedrich und Georg von Braunschweig-Lüneburg die Stadt 1637 nach 266 Jahren relativer Unabhängigkeit wieder unter landesherrliche Kontrolle. Am 11. März 1639 ver­kündeten sie, den Kalkberg wieder zur Festung ausbauen zu wollen. Den Bürgern gaben sie dabei „in gnaden zu vernehmen, welcher gestalt wir befinden, daß nicht allein der Springinsgutt und andere bey dem Castel Kalckberge stehende Thürme, sondern auch die Kalckmühlen daselbst der Vestung sehr schädlich, dahero wir dan eine ohnvermeidliche notturfft zu sein ermeßen, daß selbige allerseits abgebrochen und vor diesen angeordneter maßen demoliret werden“. 1651 wurde der Springintgut-Turm soweit abgetragen, so dass er über den Gralwall nicht mehr hinausragte. Als man den Wall 1791 einebnete, wurde der Turmstumpf noch einmal erniedrigt und mit der anfallenden Erde zugeschüttet. Darüber legte man die heutige Straße Am Gralwall an.
1959 stießen Kanalarbeiter auf die Reste des Springintgut-Turmes, dessen Fundamente sieben Meter unter der Oberfläche liegen. Weitgehend erhalten war das unterste Gewölbe, in dem man „in regelmäßigen Abständen eiserne Ringe an den Wänden vorfand, die allem Anschein nach der Ankettung der Strafgefangenen dienten“, wie Gustav Luntowski berichtet. Der berühmteste Insasse des Gefängnisses war Bürgermeister Johann Springintgut. Im Verlaufe eines eskalierenden politischen Konflikts um die Frage, wer die damals horrenden Stadtschulden bezahlen soll („Prälatenkrieg“), war er

erst mit dem päpstlichen Bann belegt, dann abgesetzt und eingekerkert worden. Nach zwölf Wochen Haft starb er am 15. Juli 1455 im Gefängnis – ein ungeheuerlicher Vorgang, der dem Turm seinen Namen gab.
Die Historikerin und erfolgreiche Managerin von Internet-Unternehmen Silke Springensguth ist wahrscheinlich mit Johann Springintgut entfernt verwandt. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität Hamburg untersuchte sie die „Rolle persönlicher und sozialer Beziehungen in Konflikten des Mittelalters am Beispiel des Lüneburger Prälatenkrieges“. Ihr lesenswertes Buch erschien 2008 unter dem Titel „Tod im Turm“.
Ausgestoßen aus der Kirche, wurde Johann Spring­intgut zunächst unter einer Scheune im Hof des Michaelisklosters begraben. Erst nach der Aufhebung des Banns 1463 konnten seine Gebeine in der Johanniskirche feierlich beigesetzt werden. Dort unterhielt die „Theodori-Gilde“ eine Kapelle. Die Vereinigung war 1461 als exklusiver Zirkel der reichsten Sülfmeisterfamilien gegründet worden. Ihre Mitglieder trafen sich zu gemeinsamen Gottesdiensten, unterstützten einander und verpflichteten sich, Johann Springintgut stets zu gedenken. Vom Altar der Kapelle des Heiligen Theodor ist im Museum eine Tafel erhalten, auf welcher der sterbende Johann Springintgut zu sehen ist, begleitet von seinem treuen Freund, dem Stadtschreiber Marquard Mildehöved. Die Familien der Theodori-Gilde betrachteten sich als Elite der Bürgerschaft, als „Patrizier“. Wie Adlige ließen sie sich mit dem Titel „Junker“ anreden und trugen bei ihren Versammlungen einen besonderen Orden (clenade) auf der Brust. Das Emblem zeigt „einen Federhut unter einer Sonne“, erläutert Michael Hecht, der das Entstehen des Lüneburger Patriziats untersucht hat. Es ist auch dem Wappen der Springintguts beigegeben.
Das Nachleben Johann Springintguts dauert bis heute an. Drei Romane kreisen um sein Schicksal: „Der Bürgermeisterturm“ von Auguste von der Elbe, „Der Sülfmeister“ von Julius Wolff sowie „Auf der alten Salzstraße“ von Magdalene Stange-Freerks, und am 5. Mai 2012 wird das Stück „Tod im Turm“ als Musical im Theater Lüneburg uraufgeführt.

Foto: Hans-Joachim Boldt , Lüneburger Blätter 10/1959,
Werner H. Preuß,